Ein koestliches Spiel
Phillip war nicht in Indien. Er war hier in Bath. Aber wieso? Wann war er hergekommen? Sie versuchte, eine Erklärung zu finden, aber sie konnte sich auf keinen Gedanken konzentrieren.
„Geh schon, Prue. Steh nicht einfach da, lauf zu ihm! drängte Hope sie.
Prudence drehte sich blinzelnd um. Ihr war fast schwindelig.
Ein hohles Gefühl breitete sich in ihr aus. Und ihr war schlecht.
Ihre Schwestern strahlten sie an. „Ist es nicht wunderbar, Prue?“, rief Charity. „Phillip kann nicht wissen, dass du hier bist. Was für eine herrliche Überraschung für euch beide. Er wird entzückt sein!“
„Ja“, antwortete Prudence benommen. Sie versuchte, sich zu sammeln. „Ich frage mich, was ... ich meine, warum ... “ Sie blickte wieder aus dem Fenster, doch es stimmte. Phillip Otterbury ging in Lebensgröße auf der anderen Straßenseite, schwang unbekümmert seinen Gehstock, während er stehen blieb und die Auslagen eines Geschäftes durch ein Lorgnon betrachtete.
„Beeil dich! “, drängte Charity sie und nahm Prudence die restlichen Bänder ab. „Ehe er wieder verschwindet.“
„Ja, ich muss.“ Prudence eilte auf die Straße, dann blieb sie jäh stehen. Was sollte sie zu ihm sagen nach all dieser Zeit? Sie machte ein paar zögerliche Schritte auf ihn zu und blieb erneut stehen, mit einem Mal wieder unsicher. Warum war er in Bath und nicht in Norfolk? Warum hatte er ihr nicht geschrieben, um sie wissen zu lassen, dass er heimkehrte? Wie lange war er schon wieder zurück in England? War das der Grund, warum er ihr auf ihre Briefe in den letzten Monaten nicht geantwortet hatte - weil er in England war und ihre Briefe nach Indien gegangen waren?
„Geh schon!“ Hope, die ihr mit den anderen gefolgt war, gab ihr von hinten einen Schubs. „Er ist dort, Prue! Was ist nur mit dir los? He, Phillip! Phillip Otterbury!“, rief sie und winkte, ohne etwas von den neugierigen Blicken zu bemerken, die sie damit auf sich zog.
Phillip drehte sich um, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht, als er mit Blicken die Straße absuchte. Als er sie entdeckte, fielen seine Kinnlade und sein Lorgnon ihm herunter. Er schaute sich rasch um, als wollte er überprüfen, ob er beobachtet wurde, dann stand er einfach da und starrte Prudence an.
Sie starrte zurück. Er rührte sich nicht. Warum nicht? Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er sah anders aus, so wie Hope es gesagt hatte - dünner und mit dunklerer Haut und nicht so groß, wie sie sich erinnerte - aber er war unverwechselbar Phillip. Immer noch attraktiv, eher attraktiver, als sie sich erinnerte. Sein goldblondes Haar schimmerte, war zu sorgfältigen Locken ge-bürstet und wirkte im Kontrast zu seiner Haut heller. Phillip war zurück in England.
„Er sieht sehr vornehm und elegant aus, nicht wahr?“, hörte sie Faith hinter sich murmeln. Und in der Tat war er sehr modisch gekleidet in Hosen im zartesten Primelgelb, hohen Stiefeln mit weißer Stulpe und einem flaschengrünen Rock, der an den Schultern großzügig gepolstert und an der Taille eng geschnitten war, geschmückt mit großen Silberknöpfen. Sein Hemdkragen war hoch und steif gestärkt, gehalten von einem ebenfalls gestärkten Halstuch, das in komplizierten Falten arrangiert war. Er trug einen hohen Hut und einen schwarz lackierten Gehstock. Sie erinnerte sich nicht, dass Phillip sonderlich an Mode interessiert gewesen war, aber jetzt schien er es zu sein. Es war schließlich mehr als vier Jahre her ...
„Geh schon, Prue! Was ist denn los mit dir?“ Hope schubste sie wieder nach vorne. Die anderen Schwestern drängten sich hinter ihr und murmelten ihr Ermutigungen zu.
Wie in Trance ging Prudence langsam auf Phillip zu. Warum bewegte er sich nicht? Was bedeutete der Ausdruck auf seinem Gesicht?
Und dann standen sie sich plötzlich gegenüber.
„Phillip“, sagte sie und hielt ihm, da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, die Hand hin.
Er schaute sich schnell um, dann ergriff er sie mit einem überraschten Gesichtsausdruck. „Prudence, mein liebes Mädchen, du bist es! Ich dachte, ich müsste mich geirrt haben. Was, um alles in der Welt, tust du in Bath?“
Prudence blinzelte. In den vergangenen Jahren hatte sie sich diesen Moment Hunderte Male vorgestellt. Sie hatte sich alle möglichen Orte ausgedacht, mehrere verschiedene Szenarien in ihrem Kopf durchgespielt. Keines davon ähnelte auch nur im Entferntesten diesem Treffen auf einer öffentlichen Straße. „Meine Schwestern und ich
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