Ein leises boeses Fluestern
oder auch nicht im Regen um Mitternacht einen Spaziergang machst, bekommst du den Hintern voll.«
Clarissa blieb mitten auf der Treppe stehen. »Was für eine Medizin?«
»Geschnittene Zwiebeln und Zucker, mit ein bißchen Wasser bei geschlossenem Deckel auf kleiner Flamme gekocht.« Louise wandte sich der Küche zu. »Ich bringe dir den Saft dann gleich.«
Clarissa verzog das Gesicht und sah über das Geländer Max an. »Hört sich scheußlich an«, bemerkte sie und stieg weiter die Treppe hinauf.
Das Haus versank in sonntagnachmittäglicher Stille. Eintönig rauschte der Regen herab. Max ging in sein Zimmer und streckte sich auf dem Bett aus. Er hatte das Fenster geöffnet und horchte auf den Regen. Der Geruch nach feuchter Erde und Efeublättern drang herein. Das Prasseln des Regens wirkte einschläfernd. Er schloß die Augen, schlief ein, erwachte wieder und erinnerte sich an die Laterne. Er stand auf und ging in die Diele. Louise war auf der Treppe.
»Sie schläft ganz fest«, flüsterte Louise. »Zu erschöpft, um auch nur eine Tasse Hühnerbrühe zu trinken.«
»Ich gehe nach oben und poliere die Laterne fertig.«
»Weck sie aber nicht auf. Sie braucht Ruhe.« Louise schlurfte in die Küche.
Oben in dem Wohnzimmer mit der Schiebetür öffnete Max das Fenster, das auf die rückwärtige Veranda hinausging. Er griff nach dem Kupferreinigungsmittel und dem Flanelltuch und machte sich ans Reinigen der Laterne.
Etwa eine Stunde lang arbeitete er. Dann schimmerte die Laterne wie eine winterliche Sonne. Max saß auf dem Fußboden und bewunderte das glänzende Kristallglas und das strahlende Kupfer. Es war die schönste Laterne, die er je gesehen hatte. Und gewiß die größte. Zwei Männer würden anfassen müssen, um sie auf ihren Pfosten zu heben und sicher in ihre Halterung zu bringen.
Er hörte Geräusche aus Clarissas Schlafzimmer, ging auf den Flur und klopfte an ihre Tür. Sie forderte ihn auf, einzutreten. Er tat es.
»Wie geht es dir?« fragte Max.
Clarissas Augen glänzten vor Fieber. »Scheußlich. Mein Hals tut mir weh. Aber sag Louise nichts. Sie wird sagen: ›Siehst du wohl.‹«
Er setzte sich auf einen Stuhl neben ihrem Bett. »Louise ist doch gar nicht so schlimm, findest du nicht?«
»Doch. Alle alten Damen sind schrullig. Und mir tut der Hals weh.«
»Dann sprich nicht mehr. Ich habe eine Überraschung für dich.«
Clarissa richtete sich auf einem Ellenbogen auf.
»Ich bin mit dem Polieren der Laterne fertig.«
»Oh, Max!« Sie fuhr in die Höhe und umarmte ihn. »Ich möchte sie sehen.«
»Jetzt nicht. Die Laterne läuft ja nicht weg.« Er berührte ihre Stirn. »Du mußt dich zudecken.«
Clarissa legte sich auf ihr Kissen zurück und zog den Zopf über eine Schulter. »Es ist nur eine Erkältung. Aber es ist ungerecht. Sie werden niemals krank. Sie können im Regen umherlaufen und tun, was sie wollen, und es schadet ihnen gar nichts.« Mit ihren blauen Augen funkelte sie Max an. »Du hast doch Louise nicht verraten, daß ich im Regen mit ihnen zusammen war?«
Er schüttelte den Kopf.
»Gut.« Sie lächelte. »Sie werden sich freuen, daß die Laterne poliert ist. Sie wollen, daß wir sie dahin bringen, wo sie war, an den Hintereingang auf der Zufahrt. Okay?«
»Okay.« Es war ein phantastisches Gespräch, denn es bezog sich auf Ereignisse, die niemals stattgefunden hatten.
Clarissa zupfte an den gestickten Fliederblüten auf dem Überschlaglaken herum. »Es tut mir leid, daß ich dich geistig minderbemittelt genannt habe. Du hast doch mit keinem anderen über – über unser Geheimnis gesprochen?«
»Mit niemandem«, versicherte Max. Die Lüge schmerzte ihn. »Das bleibt unter uns.«
»Ich glaube dir. Nur …« Clarissa zögerte. »Ich habe mich gefragt, ob du es am Samstag jemandem erzählt haben könntest.«
»Wem hätte ich es am Samstag erzählen sollen?«
»Den Leuten, mit denen du zusammen warst, als ich dich nicht finden konnte.«
»Nein.« Er betrachtete ihr glattes, reines Mädchengesicht. »Ich habe mit niemandem darüber geredet.«
»Außer mit Louise.«
»Aber du bist es doch gewesen, die Louise an deinem Geburtstag von ihnen berichtet hat.«
»Das zählt nicht, weil sie mir nicht geglaubt hat. Jedenfalls hat sie es inzwischen vergessen.« Clarissa griff sich an die Kehle. »Mein Hals tut mir weh.«
»Du hast genug gesprochen.« Max stand auf.
Clarissa nahm seine Hand und hielt sie fest. »Geh nicht weg.« Sie begann zu weinen. »Ich bin krank, und ich
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