Ein letzter Brief von dir (German Edition)
der Kellner ihre Teller auf den Tisch stellen konnte. «Ich bin einundvierzig Jahre alt. Ich habe noch alle meine Zähne.» Er bleckte die Zähne, die so weiß und stark wie die eines gesunden Tiers waren. «Ich besitze ein Unternehmen, dem es gutgeht, und daher habe ich ein Haus in Chelsea und eines in Skwierzyna, wo meine Familie wohnt, und noch ein drittes in Devon, weil es dort so schön ist. Ich reite gern.»
Orla konnte ihn sich gut auf einem Pferd vorstellen. Das Bild rief ein warmes Gefühl hervor, ganz tief in ihrem Inneren. Es war wie eine Tür, die sich öffnete. Sie hustete, nahm einen Schluck Wein, und die Tür fiel folgsam wieder ins Schloss.
«Ich gehe gern spazieren, aber nicht in der Stadt. Ich arbeite zu viel. Ich brauche neue Kleidung, aber Shoppen langweilt mich. Meine Eltern sind beide verstorben.» Marek bekreuzigte sich langsam und diskret. «Ich unterstütze meine Stiefmutter, Bognas Mutter. Und wie du weißt, gebe ich mein Bestes bei Bogna, aber ich mache mir immer noch Sorgen, dass sie irgendwann als Stripperin endet. Ich rede normalerweise nicht so viel, aber andererseits bin ich normalerweise auch nicht so öde wie bei unserem letzten Treffen. Du machst mich ein wenig nervös, und das bin ich nicht gewohnt. Mir gefällt es, wenn du rot wirst wie jetzt gerade. Ich bin allergisch gegen Koriander. Ich bin ziemlich gut im Tischtennis. Ich habe eine Narbe auf meinem Rücken, weil ich mit vierzehn von einer Mauer gefallen und in Stacheldraht gelandet bin. Früher habe ich geraucht, aber das tue ich jetzt nicht mehr. Manchmal trinke ich, manchmal bin ich sogar betrunken. Ich gehe nie ins Fitnessstudio, und heimlich kann ich die Leute nicht leiden, die das tun. Ich habe drei Freunde, der Rest sind Bekannte. Meine Freunde können eine Menge von mir erwarten. Ich erwarte ebenfalls eine Menge von ihnen, aber vor allem erwarte ich, dass sie mich zum Lachen bringen und mich nicht im Stich lassen. Ich neige zu spontanen Entscheidungen. Ich kann arrogant sein, und wenn das passiert, dann versetz mir bitte mit einer aufgerollten Zeitung eins auf die Nase. Damit hat mir meine Mutter immer gedroht, weil es bei unserem Hund auch immer funktioniert hat. Und ich bin verheiratet.»
«Und du bist was?» Orla, die dankbar für all die Informationen war und sich freute, dass sie die Minuten schneller verstreichen ließen, richtete sich auf.
«Ich habe sehr jung geheiratet», sagte Marek vorsichtig und hielt ihrem Blick stand. «Du und ich haben etwas gemeinsam. Vielleicht rede ich mir deshalb ein, dass ich dich besser kenne, als ich es in Wirklichkeit tue. Sie ist gestorben, weißt du?»
«Oh, das tut mir so leid.» Orla wusste, dass das nichts half. «Das ist furchtbar.»
«Es ist schon sehr lange her. Vierzehn Jahre. Bogna – du meine Güte, das ist mir noch nie aufgefallen –, Bogna war erst fünf.»
Orla wusste, dass Zeit keine Bedeutung hatte. «Hast du damals schon hier gelebt?»
«Ja. Ich bin als Erster übergesiedelt, dann, als wir es uns leisten konnten, ist Aga nachgekommen. Ich bin eigentlich nur ihretwegen nach England gekommen. Sie wollte ein anderes Leben. Ein besseres. Ich bin hierhergekommen, um …» – Mareks Lächeln wirkte nicht sehr fröhlich – «… mein Glück zu machen. Für sie.»
«Klingt es herablassend, wenn ich sage, wie gut dein Englisch ist?»
«Ja, das tut es», antwortete Marek und lachte mit ihr. «Aber es muss eigentlich auch gut sein: Ich bin schließlich schon gefühlte hundert Jahre in diesem Land. Polen war damals noch ganz anders, so direkt nach der Sowjetzeit. Es war so grau wie Haferbrei. Manchmal erinnere ich meine Schwester daran, wie viel Glück sie hat. Als ich so alt war wie sie, hatten wir gar nichts.»
«Ich wette, sie freut sich jedes Mal, wenn du ihr davon erzählst.»
Marek schaute an die Decke. «Sie ist nicht gerade mein größter Fan. Ich bin der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der manchmal nein zu ihr sagt.»
«Für mich klingt das, als ob du ihr guttust.»
«Klar. Aber das ist die Sicht eines Erwachsenen. Bogna sieht immer noch alles mit den Augen einer Zwölfjährigen. Ich will. Ich bekomme. Gib mir, gib mir, gib mir.»
Marek schaute eine Weile auf seinen Teller und hob dann den Blick.
«Meine Frau Aga war auch so. Sie war nicht glücklich mit ihrem Leben. Sie wollte
Dinge
. Aber sosehr wir uns auch bemühten, in Skwierzyna gab es keine Möglichkeit, unsere Situation zu verbessern und all diese modernen Luxusgegenstände zu
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