Ein Lord mit besten Absichten
stopfte sich ein ganzes Apfeltörtchen in den Mund.
»Ich bin ja
so
froh, dass du mir zustimmst, Nick. Wir werden prima miteinander auskommen, das kann ich dir jetzt schon sagen. Also, da wir uns darüber einig sind, wann es an der Zeit ist, die Dinge nicht allzu genau zu nehmen, darf ich wohl ohne jedes Zögern behaupten, dass das Verschwinden deines Vaters eindeutig in die Kategorie Notfall fällt.«
Nick schaute von den Krümeln seines Törtchens auf und hob fragend eine Braue, womit er Noble wie aus dem Gesicht geschnitten war.
»Du bist nicht damit einverstanden, den Brief zu lesen?«
Nick sah sie an.
»Oder bist du nicht der Meinung, dass dein Vater verschwunden ist?«
Er nickte.
Gillian schwenkte wieder langsam den Brief, während sie darüber nachdachte. Sie überlegte, ob sie ihm erklären sollte, in welch labilem Gemütszustand sein Vater sich befand. Sie zog in Erwägung, ihm von ihrem Plan zu erzählen, die Mauern zu durchbrechen, die Noble um sein Herz gezogen hatte. Eine ganze Weile dachte sie darüber nach, Nick von den Dingen zu berichten, die sie – als Erwachsene – sehen konnte, ihm jedoch verborgen blieben.
Sie überlegte, ob sie sich noch mehr Ausreden einfallen lassen wollte, kam aber schließlich zu einem Nein und las den Brief.
Zwei Minuten später beobachtete Nick, wie Gillian das Zimmer durchmaß und dabei leise vor sich hin fluchte. Er war darauf vorbereitet gewesen, die Frau nicht zu mögen, die sein Vater ihm als neue Mutter heimgebracht hatte, aber Gillian hatte etwas an sich, das ihn auf der Stelle zufriedenstellte. Sie war mit keinem anderen Menschen vergleichbar, den er in seinem bisherigen Leben getroffen hatte. Er verstand nicht, wieso sie ihn ohne Umschweife als ihren Sohn akzeptiert hatte, denn trotz aller Bemühungen seines Vaters, ihn zu beschützen, kannte er die schlimmen Ausdrücke, mit denen die Leute aus dem Dorf ihn bedachten. Er wusste, dass er – warum auch immer – mit einem Makel behaftet und daher nicht der Erbe war, den sein Vater brauchte, machte sich aber keine Gedanken über diesen Mangel. Derlei Grübeleien brachten nur die vielen schmerzhaften Erinnerungen an eine andere Mutter und eine Schreckensnacht zurück, die ihm wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen war.
Nun lief Gillian vor ihm auf und ab und murmelte immerzu vor sich hin. Redete sie etwa von seinem Vater? Er nahm es an, obwohl er nicht schlau aus ihren Worten wurde. In der einen Minute noch sprach sie von einem armen, fehlgeleiteten Mann, der so viel ertragen hatte, dass er nicht mehr wusste, wie man liebt, um dann in der nächsten Minute damit zu drohen, ihn zu entmannen, wenn er glaubte, ein falsches Spiel mit ihr treiben zu können, und das auch noch nach der umwerfendsten Hochzeitsnacht seit Menschengedenken. Nick fragte sich, was »entmannen« wohl bedeutete, schloss jedoch aus Gillians Gesichtsausdruck, dass es etwas ziemlich Unangenehmes sein musste. Er lehnte sich in den Sessel zurück und war damit zufrieden, sie einfach nur zu beobachten.
Als sie am Fenster stehenblieb, in den dunkler werdenden Himmel blickte und sich dabei mit dem Finger an die Lippe klopfte, sah es einen Moment lang so aus, als sei sie hin- und hergerissen; dann nickte sie zweimal und drehte sich zu ihm um.
»Ich habe mich entschlossen, deinen Vater zu retten.«
Der Junge sah sie verdutzt an. Musste er denn gerettet werden? Nick konnte sich nicht vorstellen, dass jemand, der so groß und kräftig war wie sein Vater, Hilfe brauchte. Er runzelte die Stirn. Gillian war trotz ihrer Größe recht dünn und sah nicht besonders stark aus. Er bezweifelte, dass sie viel ausrichten könnte.
»Er braucht Hilfe, Nicholas, und ich bin genau die richtige Frau dafür. Er ist viel zu dickköpfig und würde es nie zugeben, was auch daran liegen kann, dass wir uns noch nicht so gut kennen. Dennoch ist er jetzt mein Ehemann, und ich bin ihm sowohl meine Hilfe als auch meine Treue schuldig. Du brauchst gar nicht den Kopf zu schütteln, Nick. Meine Entscheidung ist gefallen. Möchtest du mich begleiten?«
Der alles bestimmenden und beherrschenden Art seines Vaters war es zuzuschreiben, dass das Leben auf Nethercote zwar angenehm, aber auch eintönig und alles andere als spannend war. Gillian hatte einen Hauch von Abenteuer mitgebracht, was den Jungen tief in seinem Innern ansprach. Nick sehnte sich danach, seine Stiefmutter zu fragen, wohin sie gingen, doch gegen die Bilder jener finsteren Nacht vor langer Zeit kam er nicht an.
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