Ein Lord mit besten Absichten
hingebungsvolle,
liebende
Mann plötzlich so abweisend verhielt? Sie kämpfte gegen die Tränen, die sie zu überwältigen drohten, und widmete sich wieder ihrem Kleid, während sie unentwegt darüber nachdachte, ob sie ihm irgendwie erklären konnte, was sein Verhalten bei ihr anrichtete. Wenn sie es könnte, würde er vielleicht verstehen.
»Noble«, sagte sie einen Augenblick später und streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu berühren. Doch als er vor ihr zurückzuckte, hielt sie auf halbem Wege inne. Da konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schossen ihr aus den Augen und ergossen sich über ihre Wangen, während sie mit einer erstickten Entschuldigung aus dem Zimmer floh. Was musste sie tun, um den Geist von Elizabeth zu vertreiben? Warum konnte Noble ihr keine Chance geben? Gab es in seinem Herzen keinen Platz für sie beide? War sie dazu verdammt, nur die Liebe seines Körpers, nicht aber die seiner Seele zu empfangen? Sie lief wie blind in ihr Schlafzimmer, um allein zu sein.
Nick sah, dass seine Stiefmutter weinte, als sie auf der Treppe an ihm vorbeilief. Sie hatte ihn nicht einmal bemerkt. Geknickt ließ er sich auf den Stufen nieder. Hatte es also schon begonnen? War auch sie auf dem besten Wege, ihn zu hassen, wie seine andere Mutter ihn gehasst hatte? In Gedanken ging er all jene Dinge durch, die er getan hatte – nein, es gab nichts, womit er sie geärgert haben könnte, nichts, das ihr einen Grund gegeben hätte, ihn zu hassen, wie die andere Mutter ihn gehasst hatte. Er hatte sich sehr bemüht, nichts falsch zu machen, seit sie vor ein paar Tagen in sein Leben getreten war – er mochte sie und wollte, dass sie ihn mochte. Darum hatte er sich fest vorgenommen, sich zu benehmen, doch vielleicht war das nicht genug. Vielleicht wandte sie sich von ihm ab wie seine andere Mutter. Er glaubte nicht, dass er das ertragen könnte.
»Nick.« Er blickte auf. Sein Vater stand unten in der Halle und ließ sich von Crouch in den Mantel helfen. »Nick, komm bitte kurz her; ich möchte mit dir reden.«
Nick sah zu, wie sein Vater Hut, Handschuhe und Stock entgegennahm, ehe er ihn zur Bibliothek winkte. Er seufzte. Von seiner Seite hatte er keine Hilfe zu erwarten. Er hatte seinen Vater enttäuscht, wie er seine Mutter enttäuscht hatte.
»Deine Mutter möchte, dass du sie heute Vormittag bei ihren Besuchen begleitest. Ich bin sicher, dass du dich viel lieber deinen Studien widmen würdest, doch ich habe ihr erlaubt, dich mitzunehmen. Und dabei muss ich sicher nicht betonen, dass ich von meinem Sohn ein anständiges Benehmen erwarte.«
Nick verschloss die Ohren vor dem, was noch folgte. Das hatte er alles schon gehört. Manchmal zwar mit anderen Worten, doch die Bedeutung war immer dieselbe. Sein Benehmen hatte der Stellung seines Vaters zu entsprechen. Dies sei äußerst wichtig, hatte auch Kindermädchen Williams immer gesagt. »Dein Papa ist ein Earl, und ein Earl ist ein sehr wichtiger Mann«, hatte sie ihm erklärt. »Eines Tages wird er einen Sohn haben, der in seine Fußstapfen tritt und dann der nächste Earl ist, aber bis dahin hat er dich, also solltest du ihn so stolz wie möglich machen. Nicht dass es am Ende eine Rolle spielen würde, weil du nicht der Sohn sein kannst, den er braucht, aber trotzdem bist du hier, und deswegen solltest du deinem Papa zeigen, wie dankbar du bist, dass er zu dir steht.«
»Nick.« Er schaute hoch und sah, dass sein Vater vor ihm hockte. Er spürte seine großen Hände warm auf seinen Knien. »Nick, du hast Gillian gern, nicht wahr?«
Er nickte.
»Gut. Ich mag sie auch. Und ich glaube …« Sein Vater hielt inne und blickte wehmütig zur Tür der Bibliothek. Nick hatte diesen Ausdruck noch nie zuvor gesehen, aber tief in seinem Innern löste er den Wunsch aus, seinen Vater zu umarmen und von ihm umarmt zu werden. »Ich glaube, sie mag uns auch.«
Zwei nahezu identische graue Augenpaare musterten einander für einen Moment und tauschten wortlos Gedanken und Gefühle aus. Nick blinzelte die Feuchtigkeit aus seinen Augen, als sein Vater ihn plötzlich fest umarmte. Er vergrub sein Gesicht in dem steifen Stoff seines Kragens und schlang die Arme um den Hals seines Vaters.
Vielleicht würde am Ende doch noch alles gut werden. Geborgen in den starken Armen seines Papas ließ Nick sich zu etwas hinreißen, das er seit fast fünf Jahren nicht mehr gewagt hatte. Er schöpfte Hoffnung.
6
»Ich dachte wirklich schon, Mutter würde uns nie allein
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