Ein Lord mit besten Absichten
Sie?«
»Palmerston ist mein Name.«
»Lord oder Mister?«
»Palmerston reicht. Pfui, haben Sie so etwas schon mal gesehen?« Eine seiner knorrigen Hände erhob sich und ein krummer Finger stach in die Luft. »Mädchen in kaum mehr als ihren Unterhemden. Zu meiner Zeit hätte man sie die Peitsche spüren lassen, wären sie in diesem extravaganten Aufzug vor die Tür getreten!«
Gillian betrachtete die Parade der an ihr vorüberziehenden Modenarren. »Ich kann verstehen, dass Sie so darüber denken, doch ich kann Ihnen versichern, dass die Mode letztendlich einen Schritt nach vorne gemacht hat. Meine Mutter hat sich immer furchtbar über all ihre Korsetts, Reifröcke und Ähnliches beschwert. Meinen Sie nicht auch, dass diese Kleider viel unkomplizierter und eleganter sind?«
»Auf jeden Fall eine Augenweide, aber gegenüber einem so jungen Ding wie Ihnen würde ich das natürlich nicht zugeben. Sie sind Westons Braut, nicht wahr?«
»Ja. Mein Name ist Gillian.«
Zwei saphirblaue Augen, die trotz des hohen Alters ihres Besitzers noch strahlten, richteten sich auf sie und betrachteten sie unter buschigen weißen Brauen hervor. Dann erhob sich die zittrige, knorrige Hand abermals und knuffte sie in den Arm. »Da haben Sie sich ja etwas Gewaltiges vorgenommen. Fühlen Sie sich der Herausforderung gewachsen?«
Gillian hielt dem Blick des Alten stand. »Ich glaube schon.«
»Leicht wird diese Aufgabe nicht; der Weg, den Sie zu gehen haben, ist ziemlich lang. Und überall lauern Straßenräuber, die sie davon abbringen wollen.«
Gillian hatte das Gefühl, in die blauen Tiefen seiner Augen gezogen zu werden. Sie waren so klar, so rein, dass es ihr vorkam, als sähe sie in die Augen eines Kindes. In welchem Verhältnis stand er zu Noble? Woher wusste er, dass Noble einen langen Weg vor sich hatte? »Ich weiß; einem sind wir schon begegnet. Ich hoffe, dass wir es dennoch gemeinsam ans Ziel der Reise schaffen.«
Der Alte nickte und tätschelte ihr erneut den Arm.
»Sir, sagen Sie mir doch bitte, wenn es Ihnen recht ist … Sie müssen Noble ja gut kennen, wenn Sie über seine Probleme Bescheid wissen.«
»Ja, das stimmt.«
»Dann können Sie mir vielleicht sagen … glauben Sie, dass meine Reise erfolgreich verlaufen wird?«
Die Saphiraugen wandten sich langsam ab und blickten zu den Leuten, die sich dicht an dicht an ihnen vorbeischoben. »Sie werden Geheimnisse zu lüften haben, Mädchen.«
»Geheimnisse?«
»Aye, Geheimnisse und Lügen, wobei die einen sich aus den anderen ergeben, die einen dort beginnen, wo die anderen enden. Wenn Sie dieses Puzzle zusammenzusetzen vermögen, ist Ihnen der Erfolg gewiss.«
Sie dachte einen Moment lang über seine Antwort nach, kam zu dem Ergebnis, dass sie alles in allem recht verheißungsvoll klang, und drückte kurz mit einem Lächeln seine Hand. Sie wollte ihn gerade fragen, woher er so viel über Noble wusste, als Charlotte sie fand.
»Liebste Cousine, du errätst nie, was Mama … um Himmels willen, Gilly, kannst du deine Handschuhe nicht mal für fünf Minuten anbehalten? Ach, vergiss sie, komm mit. Ich muss dir etwas Schreckliches erzählen!«
Gillian war entsetzt über das ungebührliche Benehmen ihrer Cousine gegenüber dem alten Mann, doch noch ehe sie protestieren konnte, schleifte Charlotte sie in eine ruhigere Ecke nahe einer Nische, in der eine Büste des Paris stand.
»Worum geht’s, Char? Ich hatte gerade ein sehr interessantes Gespräch …«
Charlotte verzog plötzlich das Gesicht und drehte sich zur Wand, während sie mit den Tränen kämpfte. Gillian legte tröstend einen Arm um ihre Schultern und drückte sie zärtlich. »Oh verflucht, es tut mir leid, Char. Es ist so warm hier drinnen, meine Hände schwitzen … Das geht bestimmt wieder raus.«
Charlotte beobachtete stumm, wie ihre Cousine versuchte, die blauen Fingerabdrücke auf dem silbernen Tüll an ihrer Schulter abzuwischen. »Gilly! Es geht um mehr als dein ungeschicktes Verhalten und deinen Mangel an gesellschaftlichen Umgangsformen! Was sollen wir nur tun? Papa hat Mama gerade gesagt, dass ich mich nicht zusammen mit dir sehen lassen soll. Gillian …«
Charlotte drehte sich um und wollte schon die Hände ihrer Cousine erfassen, als ihr die Farbe einfiel. Sie ergriff stattdessen ihre Ellbogen. »Gillian, du scheinst nicht zu erkennen, wie ernst die Situation für Weston ist. Papa sagt, dass ihn inzwischen fast jeder geschnitten hat und dass schon bald niemand mehr zu ihm stehen
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