Ein Mädchen aus Torusk
davonstapften, alle vier … in die Richtung, aus der er gekommen war. Offenbar wollten sie Hilfe holen. Der Teufel wußte, wo.
Er blickte den vermummten Gestalten nach, die allmählich im wirbelnden Schneetreiben verschwanden. Er wartete noch eine knappe Viertelstunde, dann kroch er aus seinem Versteck und ging zu der Draisine hinüber. Dieses klapprige, rostige Ding war jetzt seine große Chance.
Martin Abels verstand einiges von Motoren. Er öffnete die Haube, sah einen altmodischen, schmalbrüstigen Vierzylinderblock, brüchige Kabel, verrottete Kerzen.
Er beugte sich tiefer, wackelte an den Zündkabeln, fand nichts, nahm schließlich mit vor Kälte steifen Fingern den Verteilerkopf ab. Er atmete auf. Das kleine runde Gehäuse war innen feucht. Mit dem Zipfel seines Pullovers wischte Abels es sorgfältig trocken, setzte den Verteilerkopf wieder auf, schloß die Haube und kletterte auf den Fahrersitz.
Es dauerte einige Zeit, bis er unter den ihm fremden Armaturen den Anlasserknopf gefunden hatte. Er drückte ihn, gab gleichzeitig Gas … und atmete auf. Stuckernd, fauchend und dröhnend sprang der Motor an.
Martin Abels handelte jetzt sehr schnell. Er packte seine Sachen, warf den Rucksack auf den Nebensitz, würgte krachend den Gang hinein und fuhr an.
Die Draisine rumpelte über die Schienen nach Norden, immer weiter weg von den Rotarmisten, die irgendwo weit hinten durch den Schnee wanderten.
Zwei Stunden lang fuhr Martin Abels so, ohne daß ihm eine Menschenseele begegnete, ohne daß er etwas anderes wahrnahm als wirbelnde Schneeflocken, pfeifenden Wind, grimmige Kälte und das monotone Geräusch der Draisine. Es waren zwei Stunden, in denen er die verrückte Illusion hatte, es müsse immer so weitergehen, es könne ihm gar nichts mehr passieren, er werde so unaufhaltsam bis nach Torusk fahren. Ein harter Stoß riß ihn aus seinen Träumen. Er erschrak, klammerte sich instinktiv an der Bordwand der Draisine fest, stieß mit der anderen Hand rasch den Gang heraus. Aber ein krachender zweiter Stoß warf ihn aus dem Sitz. Er sah sekundenlang die Erde hoch über sich, alles drehte sich um ihn, hinter ihm schlug etwas dumpf auf. Dann lag Abels der Länge nach im Schnee, mit schmerzendem Rückgrat. Unheimliche Stille war plötzlich um ihn.
Langsam kroch Martin Abels aus dem Schnee, betastete seine Knochen. Nichts gebrochen. Fünf Meter weiter lag die Draisine, umgekippt, und weitere zwei Meter daneben sein Rucksack.
Abels stand eine Zeitlang regungslos da, warf endlich einen Blick zu dem umgekippten Fahrzeug hinüber, sah die gebrochene Achse, die für das abrupte Ende seiner Fahrt verantwortlich war, schüttelte sich wie ein nasser Hund, warf schließlich den Rucksack wieder auf die Schulter und strich die Eiskristalle von seinen Augenbrauen und Bartstoppeln.
Er studierte wieder die Karte. Es blieb ihm keine Wahl – er mußte seitlich ins Gebirge und die Bahnstrecke verlassen. Seine anfängliche Freude über den leichten Weg nach Norden erstarb. Die ganze Härte der Situation wurde ihm bewußt, als er die Karte wieder zusammenfaltete. Fünfzig Kilometer durch das Gebirge, bei Schneesturm und beginnender Vereisung – und was sind fünfzig Kilometer, wenn zweitausend noch vor einem liegen?
Martin Abels verließ die Straße und tappte in die Schluchten hinein. Er stemmte sich gegen den Wind, band den Mantelkragen mit einem Strick um seinen Kopf so fest, daß nur die Augen zwischen Kragenrand und Mützenrand hindurchsehen konnten; ein Sehschlitz, der immer wieder zuschneite.
Nach weiteren drei Stunden war er ausgepumpt und so müde, daß er sich immer wieder zuredete, noch ein paar Meter zu gehen und sich nicht einfach in den Schnee fallen zu lassen. Er fand im Gestein den Eingang einer flachen Höhle, kroch hinein und schlief, so wie er war, im verschneiten Mantel, die Hände in den Taschen, vor Erschöpfung ein.
Am nächsten Morgen schien die Sonne, blaß und kalt; es schneite nicht mehr. Der Schnee auf der Erde leuchtete bläulich, die Felsenspitzen ragten in einen blaugrauen Himmel, über den nicht eine einzige Wolke zog. Es war ein Tag, an dem vor acht Jahren Pawel Andrejewitsch Turganow hinaus zu seinen Fallen ging, um zu sehen, was er gefangen hatte. Einmal saß ein Wolf in der Schlinge, und da die Falle nur für Nerze und Hermeline gemacht worden war, hatten sich die Schnüre um seine Hinterläufe zugezogen. Er lebte also, der Wolf, und er tobte, als er den Menschen roch und später sah, zerrte
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