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Ein Mädchen aus Torusk

Ein Mädchen aus Torusk

Titel: Ein Mädchen aus Torusk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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du noch etwas für mich tun willst, hätte ich eine Bitte.«
    »Du weißt, daß ich dir nichts abschlagen kann, Inki«, sagte der alte Holgerson mit unsicherer Stimme.
    »Wir sind jetzt in Moskau. Bitte erkundige dich, ob es eine Anuschka Turganow in Torusk gibt.«
    »Aber Kind!« Holgerson sprang auf. »Wie stellst du dir das vor? Als ob man in Moskau jeden der zweihundert Millionen Russen kennt.«
    »Wir bleiben noch acht Tage hier. Es ist genug Zeit, um in Jakutsk anfragen zu lassen …« Sie lächelte, und es war ein schmerzliches Lächeln. »Ja, ich habe mich genau informiert. Die Verwaltung in Jakutsk ist zuständig. Man braucht dort nur telefonisch anzufragen. In ein paar Stunden kann man es wissen. Du mußt zum Innenministerium gehen, Paps.«
    »Inki!« Holgerson wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das geht doch nicht. Was soll ich denn sagen? Wir könnten uns mit dieser Nachfrage in große Gefahr bringen.«
    »Du mußt es versuchen, Paps.« Inken hob bittend beide Hände und legte sie aneinander wie ein bettelndes Kind. »Ich muß wissen, ob diese Anuschka noch lebt.«
    Verwirrt, innerlich aufgerissen verließ Holgerson das Krankenhaus, fuhr in das Moskauer Staatshotel und besprach die ganze Angelegenheit mit dem sowjetischen Dolmetscher, den man ihm zur Verfügung gestellt hatte. Er war immer um Holgerson herum, um ihm zu helfen. Nie ließ er den Verdacht aufkommen, daß er gleichzeitig jeden Schritt überwachte. Er war ein freundlicher junger Mann, der mit fünfzehn Jahren nach Deutschland gebracht worden war zur Zwangsarbeit.
    »Ich würde es nicht raten, mein Herr«, sagte er zu Reeder Holgerson. »Ganz davon abgesehen, daß das Innenministerium solche Fragen von Ausländern grundsätzlich nicht beantwortet. Außerdem würden die Turganows Schwierigkeiten bekommen. Man hielte es für merkwürdig, wenn sich ein Westmensch für Leute aus Sibirien interessiert. Vergessen wir das alles, mein Herr.«
    »Gut. Vergessen wir es.« Holgerson atmete auf. Moskau ist eine herrliche Stadt, dachte er. Die schönste Stadt, die ich nach Kopenhagen gesehen habe. Die Menschen sind freundlich, ohne Ressentiments, hilfsbereit und sichtbar glücklich mit ihrem Leben. Und doch ist es immer, als starre jemand in den Nacken, als hänge ein Mikrofon hinter einem Bild oder als gehe ein Unsichtbarer ständig neben einem her. Es ist ein Druck, eine nicht greifbare Angst, die man selbst dann nicht ablegt, wenn man abends ins Bett geht.
    Inken hatte nichts anderes erwartet, als ihr Vater am nächsten Tag berichtete, daß es unmöglich sei, das Innenministerium zu bemühen. Sie lächelte schwach und legte die Hand auf Holgersons Arm. »Schon gut, Paps. Ich glaube es. Wenn ich laufen könnte – ich hätte es erfahren.«
    »Inki –« Holgerson streichelte über ihre langen braunen Haare. »Ist das denn mit diesem Martin Abels noch immer nicht vorbei …«
    »Nein, Paps.« Sie wandte den Kopf zur Seite und starrte gegen die Wand. »Ich glaube, es wird nie vorbei sein. Man kann es nur unterdrücken – aber es bleibt, es bleibt immer.«
    Zwei Tage später flogen sie nach Deutschland zurück.
    *
    Der Weg Martin Abels' führte nach seiner Flucht aus der Gefangenschaft geradlinig nach Norden. Es war, als habe er mit diesem Ausbruch aus dem Militärlager die letzte Barriere genommen, die Menschen errichten konnten; als habe er sich damit das Recht freigekämpft, ungehindert nach Norden zu ziehen. Nur die Natur war noch sein Feind, und sie war grausam und allgegenwärtig. Vor ihr konnte man nicht flüchten. Sie ließ sich nicht überlisten oder bereden. Sie war eine Faust, die zuschlug und die kein Betteln und kein Flehen zurückhielt.
    Abels erreichte nach neun Tagen mühsamer Wanderung die alte Karawanenstraße von Mjakindja nach Chomustach am Fluß Wiljuj. Sie führte mitten durch die völlige Einsamkeit des urwaldähnlichen mittelsibirischen Berglandes, jenes von Lena und Wiljuj umarmten Gebietes, das selbst auf den Karten der Geologen noch manche weiße Flecken aufwies. Von Chomustach bis Torusk waren es dann nur noch 300 Werst. Gott im Himmel, was sind 300 Werst nach dem Weg, der hinter Abels lag! Ein Sprung nur, ein Hüpferchen, über das man gar nicht spricht. In Sibirien schrumpfen Entfernungen und Zahlen zusammen. Was einem Europäer grenzenlos erscheint, ist für einen Jakuten die nächste Nachbarschaft.
    Nördlich des Jägerdorfes Mjakindja traf Abels auf eine fröhliche Schlittenkolonne. Mit klingelnden Glöckchen auf den

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