Ein Mädchen aus Torusk
lange ist das her, dachte er. Wirklich schon acht Jahre: War es nicht gestern oder vorgestern … war es nicht gerade jetzt … wartete er nicht, während Turganow noch einmal die Umgebung nach Spuren absuchte, nach frischem Bärenkot, nach abgeschabten Baumstämmen? Wie Jahre schrumpfen können, wie wenig das Leben an Erinnerung bietet … es ist unheimlich.
Die letzten zehn Werst bis Torusk waren die schwersten von allen zweitausend, die hinter ihm lagen. Es war nun Mitte Dezember, aber die Natur meinte es gut an diesem Tag. Sie beglückwünschte den einsamen Wanderer mit Sonne, mit einem blauen Himmel, mit einem eisigkalten, klaren Tag, so kalt, daß selbst die Stimme klirrte, als er ein paarmal nach Akja rief.
Immer langsamer glitt er auf seinen Skiern durch den Wald. Die einsame hohe Kiefer ist noch da, dachte er und hielt an. Sie hatte als einzige einen Wirbelsturm überlebt und stand mitten auf einem Kahlschlag. Alles ist noch da … der Hohlweg, durch den die Stämme im Sommer von den Pferden ins Dorf gezogen werden; die Habichte, die über den Wipfeln kreisen; der Bach, jetzt vereist und tot – aber im Sommer hatte er dort Forellen gefangen, mit der Hand, gegen den Strom unter die abgeschliffenen Steine fassend, wo sie standen. Alles noch da … auch Anuschka?
Abels blieb stehen, als er den Waldrand fast erreicht hatte. Akja war vorausgelaufen, hatte Torusk gerochen und nun gesehen und blieb schweifwedelnd stehen.
»Hierher!« rief Abels mit heiserer Stimme. »Komm hierher, Akja!«
Nun, am Ziel, nach zweitausend Werst durch die Hölle, hatte er Angst, die letzten zwanzig Schritte zu machen, hinauszukommen aus dem Wald und das Haus der Turganows zu sehen. Er wußte genau, wie es aussah. An der Schmalseite des Hauses war das Dach heruntergezogen, und in diesem windgeschützten Winkel hingen an Haken die erbeuteten Felle und trockneten in der Luft. Jetzt, am Morgen, würde Turganow sie besichtigen und drehen … er tat das jeden Wintermorgen.
»Wir sind da, Akja«, sagte Martin Abels leise, als der Hund sich neben ihm in den Schnee setzte. »Du hast schon auf das Haus gesehen … hast du ein Mädchen gesehen, Akja?«
Wie kann ein Hund eine solche Frage beantworten? Aber es war gut, mit ihm zu sprechen, es löste den inneren Druck, es befreite. Es gab Mut, weiterzugehen.
Wer kann ermessen, was Abels empfand, als er diese letzten zwanzig Schritte vorwärts tat? Erinnerung und Gegenwart vermischten sich zu einem Ganzen … er war nicht mehr der Fabrikant Martin Abels aus Bremen, sondern er war nur noch der Martin, den ein Mädchen, das Anuschka hieß, zärtlich Tinja nannte.
Tinja. Mein Gott, wie nahe das wieder ist! Acht Jahre hatte er dieses Wort, diesen Klang voll Zärtlichkeit und Liebe nicht mehr im Ohr gehabt. Tinja! Wenn Anuschka es aussprach, war es wie ein Lied, wie ein Seufzen des Frühlingswindes in den noch winterharten Zweigen.
Der Waldrand.
Das Dorf.
Torusk.
Das Haus der Turganows.
Aus dem Schornstein rauchte es, unter dem überhängenden Dach pendelten die getrockneten Felle. Auch aus dem Kamin der Banja qualmte es. Sie haben große Wäsche. Olga schrubbt die Hemden und Unterhosen und schlägt die nassen Wäscheteile gegen ein Riffelbrett. Klatsch … klatsch … der Dampf wallt um ihren Kopf und zerzaust die Haare.
Martin Abels trat aus dem Waldschatten ins Freie. Akja neben ihm hob die spitze Schnauze und bellte.
Zwischen Banja und Scheune, dort, wo die Holzstapel lagen, trat eine Gestalt ins Freie. Auf beiden Armen trug sie aufgeschichtete Scheite, um sie in das Haus zu bringen.
Sie hatte Fellstiefel an, lange Wattehosen, eine Wattejacke, um den Kopf ein Wolltuch. Aber unter dem Tuch hervor wehten die langen schwarzen Haare, und dunkle, mandelförmige Augen starrten gegen den Wald, aus dem ein Mann mit einem großen Hund trat.
Abels' Herz zersprang unter einem stummen Freudenschrei. »Anuschka –« , stammelte er. »Anuschka –« Er blieb stehen und streckte die Arme nach ihr aus.
Und da erkannte auch sie den Fremden. Das Holz fiel aus ihren Armen und rumpelte in den Schnee, ihre Augen rissen auf und wurden so weit, so weit, daß ihr schönes, schmales Gesicht fast nur noch Augen waren – und dann schrie sie, hell, wie ein sterbender Schwan, schrie und warf den Kopf zurück, versuchte zu rennen und war doch gelähmt, streckte die Arme aus und taumelte.
»Tinja! Tinja!«
Wie Betrunkene taumelten sie aufeinander zu, fielen, als sie sich erreicht hatten, voreinander in den
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