Ein Mann - Kein Wort
unbewusst mitbekommen und gelernt hatte. Seine bis dahin gepflegte Illusion, dass sein Glaube sozusagen im Handstreich sämtliche negativen Prägungen der Vergangenheit ausgelöscht hätte, zerplatzte wie eine Seifenblase. Ihm wurde, als er sich mit der Problematik bei sich und anderen näher befasste, klar:
Nur wenige Christen haben in ihrer Ursprungsfamilie erlebt, dass mit Verschiedenheiten und Konflikten – sei es in der Partnerschaft oder in anderen Beziehungen – auf reife und gesunde Art umgegangen wurde. Die meisten lernten, Spannungen nach Möglichkeit unter den Teppich zu kehren oder bei Auseinandersetzungen stillschweigend das Weite zu suchen (innerer oder äußerer Rückzug ohne klärende Aussprache). Dieses Verhalten tragen die Menschen selbstverständlich auch in ihre eigene Partnerschaft hinein, völlig unbeeinflusst von der klaren und reifen »Streitkultur«, die Jesus seinen Jüngern und uns vorgelebt hat.
Die meisten Menschen leben auch – oder vielleicht gerade – als Christen unter dem Zwang, einen Eindruck von Stärke und spirituellerKompetenz zu vermitteln. Unsicherheiten, Schwächen und Versagen werden vertuscht oder verdrängt, obwohl die Lehre Jesu einen offenen Umgang mit eigenen Defiziten geradezu
zwingend verlangt
, da ohne Selbsterkenntnis auch keine emotionale, geistige und geistliche Entwicklung möglich ist.
»Nur wenige Christen stellen zwischen der Liebe zu sich selbst und der Liebe für andere eine Verbindung her.« 85 Dabei geht es in der Selbstliebe keineswegs um kindlich-naive Egozentrik, sondern ganz im Gegenteil um einen achtsamen, verantwortungsvollen Umgang mit sich selbst, den man weder an Gott noch an seinen Nächsten delegieren kann.
Scazzeros These lautet: Reife Spiritualität ist ohne reife Emotionalität nicht zu bekommen. Dies bedeutet: Wer sich nicht intensiv mit seinen Prägungen, seinen Beziehungen, seinen Reaktionen und Gefühlen und den daraus erwachsenden Krisen, Problemen oder Herausforderungen beschäftigt und auseinandersetzt, bleibt in seiner gesamten geistig-geistlichen Entwicklung stehen. Dieser Stillstand kann durch eine christliche Fassade und christlichen Aktivismus vielen (Mit-)Menschen lange Zeit verborgen bleiben. Doch diejenigen, mit denen wir zusammen arbeiten oder gar zusammen leben, die spüren ihn irgendwann – garantiert. Was bemerken oder spüren sie? Dass zwischen unseren Worten und unserem Tun, zwischen unserem Schein und unserem Sein in manchen Lebensbereichen oder -situationen eine große Kluft besteht. Dass wir nicht echt sind, nicht, wie Jesus es verlangt, »aus einem Guss«. 86 Dass unsere Innenseite nicht der Außenseite entspricht …
Nach meiner Erfahrung greift Scazzero hier ein heißes Eisen an, nämlich die unübersehbare Tatsache,
dass auch die Beziehungen unter Christen – es seien Arbeitsgemeinschaften, Freundschaften oder Ehen – an ganz banalen Defiziten, vorwiegend im emotionalen und kommunikativen Bereich, scheitern.
Diese Defizite können ihre unheilvolle Wirkung entfalten, weil die Betroffenen die Notwendigkeit, sich selbst und die Beziehungs- und Kommunikationsformen ihrer eigenen Herkunftsfamilie kritisch zu betrachten, nicht erkannt haben.
Stattdessen fliehen viele, wie Scazzero eindrücklich beschreibt, in Aktivitäten aller Art, in Glaubensphrasen und fromme Berieselung, die auf dem christlichen Markt in vielfältiger Weise (Meetings, Kongresse, Seminare, Festivals, Freizeiten, Aktionen usw.) angeboten werden. Zunehmend gehören auch Schulungen samt Zertifikaten für allerlei Tätigkeiten und Lebensfelder (von »Christlicher Leiterschule« über »Partnerschaftstraining« und »Lebensberatung« zu »Geistlichen Beratern«) zu diesem christlichen Aktionismus. Diese Schulungen nähren häufig die Illusion, durch sie sozusagen im Schnellverfahren ein emotional reifer Mensch und Christ werden zu können. Doch wie Scazzero schreibt: »Die Spiritualität, die viele der gängigen Jüngerschaftsmodelle prägt, leistet vor allem eins: sie verstärkt die Schutzschicht gegen einen emotionalen Reifungsprozess noch um eine weitere Lage.« 87
Viele Christen merken erst in ihrer Partnerschaft oder im Umgang mit ihren Kindern – manchmal auch durch Konflikte in der Gemeinde –, dass es mit ihrer emotionalen Gesundheit und Reife nicht zum Besten steht. Dann können sie sich an einen Seelsorger oder eine Lebensberaterin wenden – und wenn sie Glück haben, ist diese Person ihnen wirklich eine Hilfe, weil sie ein
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