Ein Mann von Ehre
vor sich und seufzte. Es hatte keinen Sinn, an ihn zu denken. In den letzten Tagen war sie ihm weder bei einem Spaziergang noch bei einem Ausritt begegnet, und das ließ darauf schließen, dass er sie mied.
Sie hatte ihm eine Einladung zum Abendessen geschickt, jedoch keine Antwort erhalten. Vermutlich war sie daran schuld. Bei der letzten Begegnung hätte sie ihm ihre Gefühle nicht so deutlich zeigen dürfen. Er hatte wohl beschlossen, ihr aus dem Weg zu gehen, da er gewiss keinen Umgang mit einer Frau haben wollte, die schon zu alt zum Heiraten war.
4. KAPITEL
Nicht imstande, Ruhe zu finden, stand Rosalyn auf, zog sich den Morgenmantel an und zündete Kerzen an. Dann nahm sie den Leuchter und verließ, um sich das im Salon vergessene Buch zu holen, das Schlafzimmer. Im Salon angekommen, stellte sie fest, dass das Buch auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Sie stellte den Leuchter auf den Tisch, ging zur Terrassentür und schloss sie auf. Frische Luft half vielleicht gegen die Kopfschmerzen, die sie bald nach dem Abendessen bekommen hatte. Mrs. Jenkins hatte eine sehr harsche Stimme und sprach leider sehr laut. Rosalyn bedauerte schon jetzt den Bruder, falls er gezwungen sein sollte, Beatrices Erbtante zu oft zu Gast zu haben. Sie fragte sich, ob die zwanzigtausend Pfund, die Mrs. Jenkins ihrer Nichte vererben wollte, es tatsächlich wert waren, ihre Gesellschaft zu erdulden. Für sie war Geld nie von großer Bedeutung gewesen. Inzwischen hatte sie erkannt, dass sie es stets als selbstverständlich empfunden hatte, Geld zu haben. Der Vater hatte nie wissen wollen, wofür sie es ausgab, und ihr stets untersagt, ihr Taschengeld für den Haushalt zu verwenden. Doch diese Situation würde sich nun ändern. Rosalyn musste lernen, sparsam zu sein.
Unvermittelt bemerkte sie eine Gestalt und zuckte erschrocken zusammen. Einen Moment lang klopfte das Herz ihr zum Zerspringen. Dann, als die den Mond verhüllende Wolke weitergezogen war, erkannte sie den Earl of Marlowe.
„Habe ich Sie erschreckt, Miss Eastleigh?“
„Ja, Mylord“, gab sie zu und freute sich, ihn zu sehen. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, seit sie zum letzten Mal mit ihm zusammen gewesen war. Sie bemühte sich jedoch, nicht zu zeigen, wie sehr sie sich über die zufällige Begegnung freute. „Was machen Sie hier?“
„Ich bin mit dem Hund spazieren gegangen. Plötzlich ist er auf Ihr Grundstück gelaufen, sodass ich genötigt war, ihm zu folgen. Ich habe ihn jedoch aus den Augen verloren und suche ihn noch.“
„Er wird zurückkommen“, versicherte Rosalyn lächelnd. „Ich bin in den Park gegangen, weil ich nicht schlafen konnte. Es ist eine herrliche Nacht, nicht wahr, Sir? Die frische Luft wird mir guttun und mir die Kopfschmerzen vertreiben.“
„Es tut mir leid zu hören, dass Sie sich nicht wohlfühlen.“
„So kann man es nennen“, erwiderte Rosalyn doppeldeutig. „Würde es Sie stören, wenn ich mich Ihnen anschließe? Sie müssen Sheba wieder mitnehmen, denn sonst würde Ihr Zögling sie vermissen, falls er aufwacht. Jedenfalls hat er erzählt, sie schliefe am Fußende seines Betts.“
„Ja, das weiß ich.“ Damian schmunzelte. „Nach meiner Rückkehr war ich bei ihm und habe sie auf seinem Bett liegen gesehen. Sie kam jedoch zu mir und ist neben mir hergetrottet, als ich spazieren ging.“
Das stimmte nicht ganz. Er hatte beschlossen, in diese Richtung zu gehen. Etwas hatte ihn hergezogen, ein Gefühl, das er längst abgestorben wähnte.
„Wandern Sie oft nachts in der Gegend herum?“, fragte Rosalyn und schaute ihn an. „Ich habe Sie seit Tagen nicht gesehen.“ Sie errötete, weil sie so freimütig gewesen war. Aber schließlich entsprach ihre Bemerkung der Wahrheit. „Waren Sie verreist?“
„Hat Jared Ihnen das nicht erzählt?“
Sie schüttelte den Kopf und sah gespannt den Earl an. Er hatte stark ausgeprägte Gesichtszüge und sicher auch einen gefestigten Charakter. Selbst für jemanden, der so unabhängig war wie Rosalyn, musste es tröstlich sein, den Kopf an seine breite Schulter lehnen zu können, wenn sie des Trostes bedurfte. Ein fragender Ausdruck erschien in seinen Augen, und errötend wandte sie den Blick ab. Er schien immer zu ahnen, was sie dachte, und das konnte peinlich werden, wenn er merkte, wie verwirrt sie war.
„Nein, Jared hat mir nicht gesagt, dass Sie verreist sind.“
„Ich wette, er war froh, eine Zeit lang keinen Unterricht zu haben. Ja, aus geschäftlichen Gründen war ich
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