Ein Mann von Welt
will ich das Wichtigste nicht vernachlässigen, nämlich, dass ich deinen Großvater jetzt schon vermisste. Ich vermisste seinen Gutenachtkuss auf die Stirn, sein Gutenachtkuss war immer wie eine Tür gewesen, die aufging, die Tür zum Schlaf ging in meinem
Kopf auf, er küsste mich auf die Stirn, und ich schlief ein, wie bei einem Zaubertrick. Ohne ihn wusste ich nicht, wie ich schlafen sollte. Mitten in der Nacht sah ich draußen vor meinem Fenster ein Licht, ein grelles Licht, das auf keinen Fall die Sonne war. Ich stand aus dem Bett auf und schaute in den Vorgarten, das Licht hing da an der Straße, es war eine neblige Nacht, das Licht leuchtete weiß, ich zog mir was an und ging runter. Mary, die Polizistin, lag auf dem Rücken auf dem Sofa, sie schnarchte nicht, aber sie atmete tief und laut, ihre Haare standen in alle Richtungen ab, und ihre Dienstmarke ruhte auf dem Kaffeetisch. Ich trat durch die Haustür in die Dunkelheit und den Nebel. Das grelle Licht blieb, wo es war, und ich ging darauf zu. Alle möglichen Ideen geisterten mir durch den Kopf, ich erinnerte mich daran, dass ich vorhin gedacht hatte, ich hätte deinen Großvater an seiner Schreibmaschine sitzen sehen, als es doch nur Mary, die Polizistin, war. Ich überlegte, ob das Licht so eine Art Erscheinung war, vielleicht sogar der Gutenachtkuss, den ich vermisst hatte, es schien einfach keine andere Erklärung dafür zu geben. Erst als ich daran vorbeigegangen war, erst als es mich nicht mehr blendete, erst dann konnte ich sehen, dass es auf einem Stativ montiert war, da waren tatsächlich eine Videokamera und ein Stativ. Das grelle Licht kam von ganz oben, es gab auch einen weißen Kastenwagen, mit so einer dieser Schüsseln auf einer Stange, die auf dem Dach steckte. Ich ging zur Vorderseite des Wagens und schaute durchs Seitenfenster, zwei leere Sitze. Ich ging zu den hinteren Fenstern, sie waren getönt, es war schwierig, da durchzusehen, da drin gab es eine ganze Kommandozentrale, Schal
ter und Fernseher, auf einem der Fernseher liefen die Morgennachrichten oder was die Morgennachrichten gewesen wären, wenn jemand an dem Schreibtisch des Nachrichtensprechers gesessen hätte, und auf einem anderen war die Ansicht der Kamera mit dem Licht obendrauf zu sehen, ein Bild voller beleuchtetem Nebel mit den schummrigen Umrissen meines Hauses im Hintergrund. Auf dem Boden des Wagens lag ein Haufen Klamotten, der sich als zwei Menschen herausstellte, ein Mann und eine Frau, die machten, was Männer und Frauen eben tun, etwas, das niemand unterbrechen sollte, ich ließ sie also in Ruhe, ich ließ sie weitermachen. Ich ging zurück ins Bett und fragte mich, warum sie vor meinem Haus standen. Wie gesagt, ich bin ein langsamer Auffasser. Außerdem hatte ich noch nie zuvor irgendetwas Berichtenswertes getan.
Ich lag im Bett und versuchte zu schlafen, und schließlich kam die Morgendämmerung und dann Maschinengeräusche, dann hörte ich, wie die Reporterin mit der Kamera vor dem Haus redete, irgendwie waren ihre Kleider gar nicht zerknittert. Aus dem Badezimmerfenster konnte ich einen Minibagger sehen, sie buddelten die Erde weg, sie waren gekommen, um deinen Großvater zu enterdigen, Mary, die Polizistin, wartete am Ende der Treppe auf mich. Sie hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihre Dienstmarke fehlte, und sie sah aus, als hätte all der Schlaf sie müde gemacht. Sie sagte, sie hätte versucht, sie abzuhalten, sie sagte, sie wollten es eigentlich gar nicht machen, es war das Gesetz, sie mussten es wegen dem Gesetz machen, sie waren wie ein
großer Felsen auf dem Gipfel eines steilen Hügels, sie waren angestoßen worden und mussten sich bewegen. Ich trat heraus, ich trat durch die Hintertür heraus. Den Typen, der den Minibagger bediente, kannte ich, er war ein Freund aus Madera, er hieß Freddy, eins seiner Beine war kürzer als das andere, ich winkte ihm zu, aber er senkte nur den Kopf. Wagenweise kamen Leute an, überall waren Menschen. Die Behörden zogen deinen Großvater mit seinem behelfsmäßigen Sarg, ihre Worte, aus der Erde und sie stellten ihn auf die Ladefläche eines Pritschenwagens, der Bestatter wollte nicht, dass sein Leichenwagen dreckig wird, das Holz war mit Erde verkrustet, aber man konnte die Handwerkskunst sehen, die Weinstockpflöcke hielten alles perfekt zusammen, jeder konnte sehen, wie viel Arbeit da drinsteckte. Fast alle Leute aus Madera waren gekommen, um zuzuschauen, und diejenigen, die nicht selbst da
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