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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Messadié
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übernachten. Der Laden ist rund um die Uhr offen. Du mußt nur die Tür aufdrücken. Särge sind das einzige, was in Antiochia sicher vor Diebstahl ist. Es bringt Unglück, sie zu stehlen«, erklärte er kichernd.
    Jesus schlenderte ziellos umher. In einer Schenke kaufte er ein rundes Zwiebelbrot mit eingebackenen dicken Bohnen, dann legte er sich, weil er müde war, in einem Garten in der Nähe der Synagoge ins Gras. Unter Resedasträuchern schlief er in der milden Wärme des Nachmittags ein. Als er erwachte, hatte er Durst und große Lust, ein Bad zu nehmen. Er trank an einem Brunnen von den wasserspeienden Lippen eines Delphins. Für das Bad blieb ihm — wenn er die Warnung des Sarghändlers ernst nehmen wollte — nichts anderes übrig, als in die Fluten des Orontes unterhalb der Stadt zu steigen. Obwohl ein scharfer Wind blies und ein leichter, launischer Nieselregen sich über die Stadt gelegt hatte, denn immerhin war es Dezember und der Fluß sicher recht kalt, begab er sich auf die Suche nach einem Pfad zum Ufer. Er wollte nicht verschwitzt und staubig schlafen gehen und deshalb den erstbesten, dem er begegnete, nach dem kürzesten Weg zum Ruß fragen.
    Unter einer Tamarinde lag er dann: ein magerer, altersloser Mann. Während Jesus sich ihm näherte, war ihm, als höre er den Mann mit sich selbst sprechen, doch eine solche Eigenart war sicher noch lange kein Grund anzunehmen, daß dieser Mensch ihm nicht den Weg zum Orontes zeigen könne.
    Als Jesus dann näher an den Unbekannten herantrat, rief dieser mit kräftiger, offensichtlich gesangserprobter Stimme: »Unsterblich ist die Seele! Denn sie ist nicht dein, sie gehört dem Schicksal. Wenn der Körper die Fesseln dieser Welt abstreift, so wie das Pferd seinen Reiter abwirft, fährt sie gen Himmel und verflucht die mühsame und unwürdige Knechtschaft des nun vollendeten Lebens. Aber du, der du lebst, kümmerst dich nicht darum. Du schenkst meinen Worten erst dann Glauben, wenn es keinen Grund mehr zu glauben und auch nicht zu zweifeln gibt. Denn solange du unter den Lebenden weilst, hängst du an deinem Reittier...« Er schien Jesus anzusehen.
    »Sprichst du zu mir?« fragte Jesus überrascht.
    »Ich spreche zu allen Menschen, also spreche ich auch zu dir, weil du gerade hier bist, mein Sohn«, entgegnete der Mann und blieb im Gras liegen. »Du hast dich mir genähert, und die Worte sprudelten aus meinem Herzen.« Er wirkte überdreht und fiebrig.
    »Ich wollte dich fragen, wie man am besten zum Orontes gelangt.« Der Mann starrte ihn lange unverwandt an. Unwillkürlich kam Jesus der Gedanke, er habe es mit einem Verrückten zu tun. Sein Gefühl jedoch sagte ihm, daß, falls der Mann wirklich verrückt war, da auch noch etwas anderes dahinterstecken müsse.
    »Was willst du da unten im Taifun?« schrie der Mann. »Suchst du etwa die Fluten des Drachen auf, weil deine letzten Bande zum Leben gerissen sind?«
    »Hör mal!« sagte Jesus ungeduldig. »Ich habe vor, mich im Fluß zu waschen, das ist alles. Außerdem, was soll das mit deinem Taifun und dem Drachen?«
    »Fremder«, erklärte der Mann sarkastisch lächelnd, »so nennen wir hier den Orontes. Namen, die dieses teuflischen Flusses würdig sind! Du brauchst nur deinen Fuß in seine Fluten zu setzen, und schon packen dich zehntausend als Strudel verkleidete Schlangen, um dich in Höllentiefen hinabzureißen. Sich im Orontes waschen! Das Wasser ist so eisig, daß dir sofort das Herz stehenbleibt. Warum, glaubst du, haben wir öffentliche Bäder?«
    »Die haben einen schlechten Ruf«, entgegnete Jesus.
    »Den haben sie zu Recht, aber ist denn dein Fleisch so schwach, daß du den Anblick von Lüsternheit nicht ertragen kannst? Glaubst du, daß ein starker Geist — denn deiner ist stark, das kann ich in deinen Augen lesen — , glaubst du denn, daß ein starker Geist sich durch den armseligen Gebrauch, den die Menschen von ihrem Körper machen, ablenken läßt? Antworte mir! Mir ist nur eine einzige Möglichkeit bekannt, mich mit einem anderen Menschen meines Körpers zu bedienen, aber der eigentliche Reiz liegt doch in den zahllosen Arten, seinen Geist zu gebrauchen!«
    Die wortgewaltige Rede entlockte Jesus ein Lächeln. Außerdem verbarg sich hinter den Übertreibungen sehr wohl eine Spur von Weisheit.
    »Bist du wie die anderen Juden? Denn du bist Jude, nicht wahr? Ich errate es an deiner besonderen Art, die Haare zusammenzubinden. Gehörst du also auch zu den Juden, die glauben, der Allwissende

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