Ein Mensch namens Jesus
hineinbeißen, als er im Hintergrund der Bude ein bleiches Büb-lein erblickte, das nach Atem zu ringen schien. Er fragte, was dem Kind fehle. Die Frau klagte, daß es schwach sei und nicht essen wolle. Der Junge war ihr einziges Enkelkind; Vater und Mutter hatte er verloren. Ob es in Antiochia denn niemanden gebe, der ihm helfen könne, fragte Jesus.
»Wahrscheinlich schon«, entgegnete die Alte, »aber ich kann mir die Behandlung nicht leisten.«
»Kann ich mit ihm sprechen?« bat Jesus.
Die Frau sah zu ihm auf und nickte. Er trat in die Bude und legte seine Hand auf das magere Beinchen des Jungen, der erschauerte. Dann nahm er ihn in seine Arme und umspannte den dünnen Nacken des Kleinen mit seiner Hand. Das Kind ließ ihn gewähren. Jesus hielt die Augen geschlossen. Der Atem des kleinen Kranken ging immer geräuschvoller und stockender; schließlich wurde das Keuchen so laut, daß Jesus große Angst überkam. Er drückte das Kind, das plötzlich hustete und einen Schrei ausstieß. Die Alte fluchte. »Nun ist er tot!« jammerte sie. »Du hast ihn umgebracht!« Aber Jesus spürte, daß das Kind lebte; er schlug die Augen auf und blickte in die des ruhiger atmenden Jungen, dann sah er in das vor Erregung verzerrte Gesicht der alten Frau.
»Ich bin nicht tot«, erklärte das Kind und legte seine Hand auf die Brust seines Wohltäters.
»Herr! Allmächtiger Herr!« rief die Frau. Sie nahm Jesus das Kind aus den Armen. »Er atmet!« flüsterte sie. »Er atmet viel ruhiger!« Tränen kullerten ihr bis an die Spitze der Hakennase. »Allmächtiger!«
Jesus machte sich über seinen Fisch her. Zwei Kunden wurden ungeduldig, da sie nicht wußten, was in der Bude vor sich ging.
»Geh deine Kunden bedienen!« sagte Jesus zur Alten.
Mit fahrig zitternden Händen hantierte sie mit dem Gebratenen. Unaufhörlich stammelte sie: »Allmächtiger!«
Das Kind stand neben ihr und blickte auf das Essen. »Ich habe Hunger«, verkündete es mit dünnem Stimmchen.
»O Herr!« schrie die Alte. »Herr, deine Güte bringt mich noch um!«
»Jetzt ist nicht der geeignete Augenblick zum Sterben«, bemerkte Jesus. »Gib lieber deinem Enkel etwas vom Fleisch.«
Die Kunden sperrten die Augen weit auf.
»Dieser Mann...«, begann die Frau und zeigte dabei mit der Hand auf Jesus, »dieser Mann hat ein Wunder vollbracht.«
Jesus spießte ein Fleischbällchen auf und reichte es dem Kind, das kurz darüberblies und es sofort gierig verschlang. Die Großmutter warf sich Jesus zu Füßen und begann hemmungslos zu weinen. Er hob sie auf. »Ist ja schon gut, du erschreckst nur deinen Enkel.« Er führte sie zu ihren Pfannen zurück und verließ die Bude.
»Wer bist du?« rief die Frau ihm ungestüm nach. »Ich will deinen Namen wissen. Alle Tage will ich für dich beten, bis meine Stimme versagt.«
»Bete für Jesus!« erwiderte er.
»Jesus...«, wiederholte sie.
»Und zeig mir den Weg zum Daphne-Hain!«
Sie war so verstört, daß er sich die Beschreibung mehrmals wiederholen lassen mußte. Dann ging er. Sie rief ihn zurück. »Ich werde dich bis zu meinem Tod mit Essen versorgen.«
»Gib deinem Enkel zu essen, er hat es nötig«, antwortete Jesus, bevor er der Bude endgültig den Rücken kehrte.
Der Daphne-Hain bestand lediglich aus einer kleinen Baumgruppe; ein paar Laternen warfen dort riesige Schatten. Es ist schon seltsam, welch ausgesprochene Vorliebe diese Leute für Bäume haben, ging es Jesus durch den Kopf, wobei er an die Orangenanpflanzung dachte, in der Dositheus seine Reden gehalten hatte. Ob sie wohl glauben, daß das Geäst der Baumkronen sie der Natur näherbringt? Stimmen wurden laut in der Nacht, von denen eine höher als die übrigen zu schweben schien; es war, als würde sie von ihrem eigenen melodiösen Redefluß getragen. Diese Stimme rückte näher, sie sprach Griechisch und redete von Schwingungen. Das konnte nur Apollonios’ Stimme sein. Jesus blieb einige Fuß von dem Redner entfernt stehen, um ihn in aller Ruhe zu betrachten. Apollonios war groß, und seine blonden Haare, die ihm über das braungebrannte, hohlwangige Gesicht herabfielen — ein untrügliches Merkmal häufiger Ekstasen, dachte Jesus sofort — , verliehen ihm eine würdevolle und verführerische Ausstrahlung. Sein Bart wirkte jugendlich, die Augen strahlten blau. Er ist nicht älter als ich, dachte Jesus weiter. Die Tunika trug Apollonios nach griechischer Art, eine Schulter war unbedeckt. »Woraus besteht die Welt?« Mit diesen Worten wandte
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