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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Messadié
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Rinnstein. Ihre Töchter kehrten mit vollen Tonkrügen auf den Köpfen vom Brunnen zurück und betraten das Haus, ohne auch nur einen Blick auf die Fremden zu werfen, wie es sich für sie ziemte.
    »Du bist also der Messias, denn er hat es gesagt«, erklärte der Wortführer der sieben Jünger Jokanaans.
    Jesus kannte ihn gut; Zacharias hieß er. Er hatte ihm damals, in jener Nacht in Änon-Salim, als Jokanaan so hoch emporgeschwebt war, geholfen, den Täufer auf den Erdboden zurückzuholen. Und ebendiesen Zacharias hatte Jokanaan vor einigen Wochen ausgesandt, um Jesus jene Frage zu stellen, die alle Gemüter seither so erhitzte: »Bist du derjenige, der da kommen soll, oder müssen wir auf einen anderen warten?« Ein anderer? Welcher andere? Es wäre unsinnig und falsch gewesen, abzuleugnen, daß Gott mit ihm, Jesus, eine Absicht verfolgte, auch wenn er daraus keineswegs eine messianische Berufung ableiten konnte.
    Zacharias hätte, seinem Äußeren nach, ein jüngerer Bruder von Jokanaan sein können, nur lag in seinen Augen weder die Tiefe noch der Wahnsinn und auch nicht die Milde, die sich in den Augen seines Meisters widergespiegelt hatten. Jokanaans Blick war nach innen gerichtet gewesen, während Zacharias’ Augen voller Wildheit und vielleicht sogar etwas Bitterkeit die Welt befragten. »Aber wir möchten dir sagen, daß du nicht unser Meister bist. Wir bleiben Jokanaans Lehre treu.«
    Jesus nickte.
    »Jedenfalls«, fuhr Zacharias beinahe unwirsch fort, »werden wir nicht die Manieren deiner Jünger annehmen. Wir halten den Sabbat ein,
    wir...«
    Jesus hob die Hand, um die Schmährede, die nun folgen würde, zu unterbrechen. »Eure Vorhaltungen sind mir schon bekannt«, sagte er. »Laßt mich jetzt mit meinem Kummer allein.«
    Er spürte die auf ihn gerichteten Blicke der Jünger Jokanaans, Blicke ohne jede Wärme. Und er wußte auch, warum: Er hatte die Wüste verlassen, er war nicht nackt, er saß mit reichen Leuten an einem Tisch, verkehrte mit Frauen, beachtete das Arbeitsverbot am Sabbat nicht, und wahrscheinlich begegnete er der Welt auch nicht mit genügend Verachtung. Er zeigte Erbarmen, weil er Kranke heilte, anstatt ihr Schicksal den Absichten des Herrn zu überlassen. Aber er hielt es für notwendig, gegen Gott ebenso anzukämpfen wie gegen den Teufel. Deshalb hatte er Zacharias damals auch geantwortet, daß Blinde wieder sehen und Lahme gehen könnten. Zur Belehrung Jokanaans hatte das sicherlich ausgereicht. Jokanaan, der den Heilkundigen ebenso Verachtung entgegenbrachte wie den Pharisäern und dem die Heilung von Kranken suspekt erschien, weil man damit dem Willen des Herrn Vorgriff, ja ihm sogar entgegenwirkte.
    »Bevor ich gehe«, sagte Zacharias, »soll ich dir noch dies hier übergeben.« Er holte ein kleines Stück Rinde von einem Granatapfelbaum aus seinem Mantel hervor. Kaum halb so groß wie eine Hand war es und wirkte auf den ersten Blick verschmutzt. Bei näherem Hinsehen jedoch entpuppten sich die Schmutzflecken als Worte, die mit der Spitze eines angekohlten Holzspans aufgekritzelt waren. Jesus hielt das Rindenstück auf der flachen Hand. Vier Worte standen da, halb verwischt, aber noch lesbar.
    »Unser Meister trug es an seinem Gürtel«, erklärte Zacharias. »Er sagte uns, er wolle es dir vermachen.«
    Jesus dachte über die vier Worte nach und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Jokanaan hatte also seinen Kopf abgewandt und seinen Blick auf andere Dinge gerichtet. Als Jesus wieder aufsah, waren die Jünger Jokanaans gegangen. Von seinen eigenen Gefährten ließ sich keiner blicken. Er ging am See entlang, hockte sich schließlich an den Strand und betrachtete die vom Wind geblähten Segel auf der silbrig gleißenden Wasseroberfläche. Wie war es möglich, daß sich eine derartige geistige Katastrophe nicht in der materiellen Welt widerspiegelte? Bestand demnach keine Verbindung zwischen den beiden Welten? Wußten die Fischer nicht, daß man Jokanaan enthauptet hatte? Und falls sie es doch wußten, warum waren sie dann zum Fischen auf den See hinausgefahren? Würde der Mensch denn bis zum letzten Tag so gedankenlos auf dieser Erde dahinleben? Schwer wie ein Stein lastete die Trauer auf seinem Herzen. Ganz nah am Ufer schnellte ein Fisch kurz aus dem Wasser. Vielleicht hatten Jokanaans Lippen noch im Tode gezittert. Nun rann Sand in seinen Mund. In Aloe und Myrrhe vertrocknete sein Körper und fiel der Verwesung anheim. Vorbei war es mit den einst so sinnlichen Lippen des

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