Ein Mensch namens Jesus
Nikodemus, gekränkt, daß man ihn verdächtigen konnte, ein falsches Spiel zu spielen. »Wir haben in aller Offenheit gehandelt und tun das auch jetzt.«
»Wart ihr die einzigen, die sich zu Jesus’ Gunsten ausgesprochen haben?«
»Es gab noch andere, die ihn für unschuldig hielten, doch wir waren in der Minderheit«, antwortete Nikodemus.
Pilatus wanderte mit großen Schritten im Raum auf und ab.
»Wie hat es nur passieren können?« fragte er schließlich. »Ich hatte ausdrücklich Befehl gegeben, ihm nicht die Schienbeine zu brechen.«
»Das wissen wir«, meinte Josef von Arimathäa. »Aber da war eben noch dieser Lanzenstich.«
Pilatus knirschte mit den Zähnen. Den betreffenden Zenturio, der das hatte durchgehen lassen, sollte der Vorfall teuer zu stehen kommen!
»Ein Stich mit der Lancea muß nicht unbedingt tödlich sein«, gab er zu bedenken. »Viele Soldaten haben schon Schlimmeres überlebt, nicht nur Verletzungen durch die Lancea, sondern sogar durch eine Hasta oder ein Pilum.« Plötzlich drehte er sich zu ihnen um. »Was meint ihr? Ist der Mann wirklich tot?«
Nikodemus riß die Augen auf.
»Der Mann wurde kurz nach Mittag ans Kreuz geschlagen«, rief Pilatus aufgeregt und schaute nach der Wasseruhr. »Fünf Stunden sind seither vergangen. Es sollte mich wundem, wenn er nach fünf Stunden am Kreuz bereits tot wäre. Ihr wißt genausogut wie ich, daß es schon Leute gab, die eine Woche am Kreuz überlebt haben, und daß es mindestens zwölf Stunden dauert, bis der Erstickungstod eintritt. Und selbst dann muß man ihnen zuerst die Schienbeine brechen, um den Tod zu beschleunigen. Die Schienbeine hat man ihm doch nicht gebrochen, oder?«
»Nein«, bestätigte Josef von Arimathäa.
Wieder durchmaß Pilatus mit großen Schritten den Raum, in dem die Lampen, die bereits seit der Mittagsstunde brannten, ein trübes Licht streuten.
»Ihr habt vorhin erwähnt, daß ihr von meiner Anordnung, Jesus die Schienbeine nicht brechen zu lassen, wußtet. Wie habt ihr das erfahren?«
»Wir sind auf deine Leute zugegangen mit eben der Bitte, Jesus nicht die Schienbeine zu brechen. Dabei erhielten wir die Antwort, daß du bereits diesbezügliche Anordnungen gegeben hast«, antwortete Josef von Arimathäa. »Und was die Verwundung angeht — es ist durchaus richtig, daß sie nicht unbedingt tödlich sein muß. Aber wir hatten den Eindruck, daß Jesus, der Messias, tot ist; sein Kopf hängt vornüber.«
Jesus, der Messias! In welches ausweglose Abenteuer bin ich da nur hineingeraten! dachte Pilatus. Ein Messias! Und das mir, dem Prokurator von Judäa!
»Wart nur ihr dort oben?«
»Ja, nur wir beide.«
»Ich habe mir sagen lassen, daß er sehr ergebene Jünger um sich hatte?«
Die beiden Juden zuckten mit den Achseln.
»Der älteste von ihnen, ein gewisser Simon Petrus, hat sich heute morgen vor dem Tor des Sanhedrin aufgewärmt und behauptet, er kenne den Verurteilten gar nicht. Ein anderer namens Johannes, von dem es heißt, er sei mit Hannas entfernt verwandt, ist seit heute mittag spurlos verschwunden, obwohl er sich zuvor mit Sicherheit in Jerusalem aufhielt.«
Pilatus setzte nachdenklich seine Sandalenspitze genau auf den feinen Putzstreifen, der zwei Marmorplatten voneinander trennte.
»Bei all den Anhängern, die er hatte...«, hob er an, verstummte aber wieder und sah zum Fenster hin, an dem der Wind rüttelte. Dicke Wolken schienen drauf und dran, sich wie tote Leviatane über das Land stürzen zu wollen. Da klopfte es an der Tür. Es war der Sekretär und hinter ihm ein keuchender, vom Regen völlig durchweichter Soldat.
»Herr, der Mann scheint tatsächlich tot zu sein.«
»Hat er viel Blut verloren?«
»Nicht allzuviel, Herr, nur an den Händen und Füßen. Und auch aus einer schmalen Wunde in der Seite. Aber der Regen hat alles abgewaschen.«
»Wer ist jetzt dort oben?«
»Die von dir beorderte Sonderabteilung, Herr. Aber es drücken sich vereinzelt auch ein paar Leute herum, die heimlich beobachten, was sich tut.«
Pilatus nickte. Der Sekretär zog sich zurück und schloß die Tür hinter sich.
»Wenn er nicht stark geblutet hat«, wandte sich Pilatus wieder an Josef von Arimathäa und Nikodemus, »könnte das bedeuten — und ich spreche da aus Erfahrung daß er trotz der Verwundung noch lebt. Sonst hätte er überhaupt nicht geblutet oder aber wie manche Leichen eine Art schwarzgefärbtes Wasser abgesondert... Gut, er gehört euch. Haltet mich jedoch auf dem laufenden!«
Die
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