Ein Mensch namens Jesus
deine Leute hätten nichts geahnt...«
»Trotzdem ist es besser, wenn wir ohne sie auskommen«, meinte Josef von Arimathäa.
»Und was machen wir, wenn er tatsächlich am Leben ist?« fragte Nikodemus.
»Weit könnten wir ihn bestimmt nicht wegschaffen. Ich habe ein Haus in der Nähe von Emmaus. Dort wäre eine erste Rast möglich. Danach... Danach wird der Herr uns beistehen müssen.«
»Und falls er tot ist?« fragte Nikodemus.
»Dann lassen wir ihn selbstverständlich, wo er ist.«
»Und wie kommen wir nach Emmaus? Wir brauchen ein Reittier. Meinst du, ich soll mein Pferd holen?«
»Nein, kein Pferd. Das ist zu auffällig. Besser ein Maultier. Ich warte hier auf dich. Und bring auch zwei Knüppel und einen Dolch mit.«
»Wir haben nichts gegessen«, fiel Nikodemus ein. »Wenn wir wirklich heute nacht noch den Weg bis Emmaus vor uns haben...«
Sie gingen in eine Taverne, wo sie sich, um möglichst kein Aufsehen zu erregen, auf griechisch unterhielten. Sie aßen wenig. Zwei Stunden vor Mitternacht zogen dann zwei Männer mit einem Maulesel durch das Efraim-Tor zur Stadt hinaus.
... Die Welt brüllt. Die Welt ist und kann nichts anderes sein als ein Meer von Gebrüll. Der Herr kann nur regieren, wenn das Brüllen verstummt, doch so schnell wird das nicht geschehen... Daraus sind ja auch die Vögel und Blumen gemacht, aus Gebrüll... Die Lilien und die Schwalben brüllen, selbst die Sonne brüllt, und der Mond ist auch nur ein Grab, umzingelt von Brüllenden. Da ist ein Faden... Ein ganz feiner Faden, feiner noch als das filigranste Spinnennetz... Komm zurück, Schmerz, du bist das Leben... Durst, Durst! Hitze und Durst! Daß alles so finster ist!... Sind die Augen denn tot? Trommeln. Durst. Trommeln. Wer schlägt da Trommeln? Luft! Durst, Wasser, Luft! Und dieser Duft! Ist es die Erde, die so nach Myrrhe riecht? Durst. Trommeln.
Die Nacht zerriß, und Ströme von Blut ergossen sich im Rhythmus von Trommelschlägen von oben herab. Eine Woge brandete gegen eine Mauer, höher als tausend Berge. Ein weißes Feuer verwüstete die Hügel Israels, während Menschen starrsinnig murrten. Ein roter Stern tanzte am oberen Ende eines Stockes. Ein menschlicher Schatten teilte die Mauer der Grabkammer. Josef von Arimathäa beugte sich mit angehaltenem Atem über das Leichentuch und schob es langsam beiseite. Ein Schrei entfuhr ihm, so daß die Wachen herbeiliefen. Jesus blickte ihn aus blutunterlaufenen Augen an. Die Silbermünzen, die sie ihm auf die Lider gelegt hatten, waren seitlich über die Ohren weggerutscht.
Nikodemus schrie auf. Ebenso die Wachen, die an allen Gliedmaßen zu schlottern begannen.
Die Fackeln in den Händen der Männer schwankten.
Jesus versuchte, den Arm auszustrecken. Dann bat er um Wasser.
Verstört brachte ihm Nikodemus die Feldflasche eines der beiden Wachposten. Diese hatten sich mit dem Gesicht nach unten zu Boden geworfen und flehten um Erbarmen.
Draußen scharrte das Maultier mit den Hufen. Die Sterne funkelten wie riesenhafte Diamanten.
XXVI.
»Das Ende ist ein Anfang«
Am Sabbat, kurz vor Mittag, war er da, der Skandal, und die Kunde von ihm verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Jeder erfuhr es: die Händler im Tempelbezirk, die kreideweiß wurden, die Frauen, die auf den Markt gingen, jedoch mit leeren Körben heimkehrten, die Dirnen aus dem Zitadellenviertel, die sich plötzlich verschleiert hatten, die Köche im Untergeschoß des herodianischen Palastes, die mit der Pfanne in der Hand in ihrer Arbeit innehielten, ebenso wie die Gewürzhändler, die Josef von Arimathäa und Nikodemus Myrrhe und Aloe verkauft hatten, und auch der Knecht, der Simon Petrus am Tag zuvor angesprochen hatte. Man hatte das Grab leer gefunden. Ganz Jerusalem befand sich in heller Aufregung.
Die Nachricht überfiel Kaiphas auf dem Weg zum Allerheiligsten wie das Viertagefieber einen Reisenden. Der Hohepriester verlangte nach Gedalja, doch dieser war unauffindbar. Daraufhin wollte er den Kommandeur der Tempelpolizei zu sich rufen lassen, der aber war mit Gedalja unterwegs. Während Kaiphas den heiligsten Ort des Tempels betrat, hatte er das Gefühl, als laste auf ihm ein unsichtbarer Mühlstein.
Um die dritte Stunde des Nachmittags tauchte Gedalja wieder auf. »Wo warst du?« fragte Kaiphas mit tonloser Stimme.
»Ich bin der Sache nachgegangen.«
»Und was hast du gefunden?«
»Ein leeres Grab. Und zwei Wachposten, die dem Wahnsinn nahe waren.«
Gedalja setzte sich dem Hohenpriester
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