Ein Mensch namens Jesus
zuraunte, die sich nicht anders anhörten, als all jene liebevollen Nichtigkeiten, mit denen man kranke Kinder zu trösten sucht. Wie lange das so ging, hätte die Mutter nicht zu sagen vermocht, doch wurde ihre Aufmerksamkeit endgültig wach, als das Kind plötzlich aufgeregt ausrief, es könne sein Bein bewegen. Mit gerunzelter Stirn und auf den Beckenrand gestützt, beugte sich die Mutter vor, um das angebliche Wunder in Augenschein zu nehmen. Fast wäre sie vornübergekippt.
»Allmächtiger Herr!« flüsterte sie. »Seit zwei Jahren war das Bein gelähmt.«
»Dieses Wasser hat schon vielen geholfen, besonders Kindern«, meinte der Mann.
»Aber wir waren schon etliche Male hier, ohne daß sich jemals eine Wirkung gezeigt hätte«, erklärte die Frau, während sie ihr Kind wieder an sich nahm. »Gott segne dich! Wie heißt du?«
»Immanuel.«
»Das ist wie ein Wunder, Immanuel. Ein Wunder, wie Jesus, der Messias, sie vollbracht hat. Lebst du in Tiberias?«
»Nein, aber ich bin Galiläer«, antwortete er. »Der Herr möge deine Tochter behüten!«
Langsam stieg er aus dem Wasser und trocknete sich ab, während sich eine kleine Ansammlung um die Mutter und ihr Kind bildete. Dann zog er sich an und verband sich jeden Fuß straff mit langen Stoffstreifen, bevor er in seine Sandalen schlüpfte und seinen Stab ergriff, einen dicken Stab aus Nußbaumholz, der am Griff bereits stark abgenutzt war. Er verließ das Bad und schlug die Straße nach Norden, am Ufer des Sees Gennesaret entlang, ein.
Als der Abend herandämmerte, erreichte er die ersten Häuser von Kafarnaum. Der Sommer ging seinem Ende zu. Über den Dächern und dem See lag ein kupferner Schimmer, und bald legte der Himmel in Erinnerung an den vergangenen Tag sein indigofarbenes Trauergewand an. Immanuel ging wie jemand, der seinen Weg kennt, und betrat fast geistesabwesend und wie ein häufiger Gast eine Taverne nahe am See. Der Wirt empfing ihn mit einem flüchtigen Kopfnicken und bot ihm einen Platz am Ende eines Tisches an, an dem sich drei Griechen über getrockneten Fisch mit Zwiebeln und kühlem Wein hermachten.
»Wie war der Fischfang heute?« erkundigte sich Immanuel bei dem Wirt.
»Mäßig. Kein Wunder bei der Windstille. Aber ich habe trotzdem ein paar Barsche.«
»Gegen Mitternacht wird Wind aufkommen. Ich habe vorhin gesehen, daß von Norden her Wolken aufziehen.«
»Hm, kann sein«, meinte der Wirt. »Nur ist es nicht gerade die bequernste Art, nachts zu fischen. Man weiß nie so recht, wo das Viehzeug gerade ist; manchmal ganz nah am Ufer, dann wieder mitten im See.«
»Das hängt von den Strömungen ab«, sagte Immanuel. »Wenn der Wind von Norden her bläst, kühlen die südlichen Strömungen innerhalb etwa einer Stunde ab, und dann findet man auf der Höhe von Ti-berias Unmengen von Saiblingen, Barschen und Karpfen.«
»Du kennst dich vielleicht aus mit der Fischerei! Ich sollte dir meinen Sohn schicken, der erlernt den Beruf nämlich gerade. Bist du aus Galiläa? Man hört den Akzent bei dir.«
»Ja, ich bin Galiläer, aber ich war einige Zeit nicht mehr in der Gegend. Würdest du mir also bitte einen Barsch zubereiten?«
»Du warst fort... Das erklärt wohl auch dein glattrasiertes Gesicht. Ich hatte dich für einen Griechen oder jemanden aus der Dekapolis gehalten, der hier in der Gegend gelebt hat. Und ich habe mir auch erzählen lassen, daß man in Judäa mehr Männer ohne Bart sieht. Jedenfalls hast du während deiner Abwesenheit nichts Großartiges verpaßt«, meinte er noch trübsinnig, bevor er sich in die Küche trollte. Einer der Griechen lächelte Immanuel zu und lud ihn zu einem Becher Wein ein. Er nahm an.
»Ich habe bei eurem Gespräch gerade aufgeschnappt, daß du von einer Reise zurückkehrst. Warst du weit weg?« erkundigte sich der Grieche.
»Nicht allzuweit, nur in Judäa«, gab Immanuel zur Antwort. »Erzähl! Was war denn nun dort eigentlich los?«
»Los? Von welchen Ereignissen sprichst du?« fragte Immanuel nach. »Sie sollen einen Mann dort gekreuzigt haben, von dem alle Welt behauptet, er sei der Messias gewesen: ein gewisser Jesus, der König der Juden werden sollte. Es heißt, nachdem sie ihn begraben haben, sei der Messias verschwunden, auferstanden... So genau weiß ich das eben nicht.«
»Ja, sie haben einen gewissen Jesus gekreuzigt«, nickte Immanuel. »Und sein Leichnam, oder sagen wir: seine sterbliche Hülle, ist tatsächlich verschwunden.«
Inzwischen wurden ihm Barsch und Wein
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