Ein Mensch namens Jesus
Juden zur Aufsicht einen Priester stellen?«
»Es wäre besser, in jedem Juden einen Priester zu postieren«, antwortete Jesus.
Mattathias lachte gekünstelt und wandte sich an Jonathan. »Ich verstehe das Interesse deines Vaters an diesem Jungen«, sagte er. »Er ist nicht auf den Mund gefallen.«
Ein Levit, der bis dahin die Unterhaltung am Rande mitbekommen hatte, ihr aber nicht zugehört zu haben schien, wurde aufmerksam. »Wie alt bist du noch mal?« fragte Mattathias.
»Zwölf.«
»Hast du je Unterricht erteilt bekommen?«
»Mein Vater hat mir die Bücher Genesis, Exodus, Leviticus und Deuteronomium vorgelesen.«
»Was macht dein Vater?«
»Er ist Zimmermann.«
»Ein Zimmermann hat dir diese Bücher vorgelesen? Sie sind in Hebräisch geschrieben; in welcher Sprache hat er sie dir vorgelesen?«
»Er hat sie nach und nach ins Aramäische übersetzt.«
»Dein Vater, ein Zimmermann, kann Hebräisch und Aramäisch?« Jesus zögerte einen Augenblick. »Ein Mann muß nicht unbedingt Schriftgelehrter sein, um die Bücher lesen zu können.«
»Und hat er dir gesagt, wer uns das Gesetz übergeben hat?«
»Der Herr.«
»Vergißt du da nicht Moses und die Propheten?«
»Sie haben das Gesetz in Empfang genommen.«
»Gab es also das Gesetz nicht, bevor sie es in Empfang genommen haben?«
»Wieso nicht?« gab Jesus zurück. »Hat der Herr den Menschen nicht nach seinem Ebenbilde geschaffen? Das Gesetz ist folglich im Herzen des Sohnes eingegraben, so wie es das im Willen des Vaters ist.«
»Es war also unnütz, daß der Herr Moses die Gesetzestafeln übergab, da das Gesetz schon in den Herzen der Menschen geschrieben stand?«
Jesus warf dem verblüfften Jonathan einen Blick zu, dann dem immer runzeliger wirkenden Mattathias und dem Leviten, der sich am Kopf kratzte.
»Die Menschen hatten sich verirrt«, sagte er gleichgültig. »Sie hatten einfach das Gesetz vergessen.«
»Geh und hole Ebenezer«, wandte sich Mattathias an den Leviten. Ebenezer war ebenfalls Priester, doch sein Äußeres unterschied sich von dem Mattathias’ sehr: Er war hoch gewachsen, schmal, blaß, und er wirkte erschöpft. Jesus hatte die Unterbrechung genutzt, um sich in der Wandelhalle umzusehen, in der man ihn so überraschend prüfte. Eingehend betrachtete er die Silber- und Goldmalereien auf dem Kranzgesims und an der Decke sowie die mit Goldfaden gewebten Fenstervorhänge.
»Ich habe heute viel zu tun«, klagte Ebenezer.
»Ich befragte eben diesen Jungen, Jesus, Sohn des Josef, aus Galiläa über das Gesetz. Josef von Arimathäa hat ihn mir anempfohlen. Ich hätte gern, daß du an der Prüfung teilnimmst«, sagte Mattathias. Ebenezer blickte den Jungen kühl an. Offensichtlich konnte er nichts an ihm finden, was die Störung gerechtfertigt hätte.
»Dieser Junge«, sagte Mattathias, »behauptet, daß das Gesetz nicht nur aus geschriebenen Worten besteht, sondern auch in das Herz der Menschen eingeschrieben ist.«
»Er meint wahrscheinlich das Gesprochene Gesetz«, sagte Ebenezer. »Nein, so meine ich das nicht«, bemerkte Jesus. »Ob die Worte nun geschrieben oder gesprochen werden, sie sind nur Worte. Sie können leer sein wie gedroschenes Stroh.«
»Warum sollten sie leer sein?« fragte Mattathias. »Was ist denn das nun wieder für eine Idee: leere Worte?«
»Das Wort Jahwes ist ewig lebendig; die Worte der Menschen hingegen können ihren Sinn verlieren oder vergessen werden. Wenn der Mensch das Wort des Herrn mit seiner Hand schreibt oder mit seinem Mund ausspricht, läuft er Gefahr, es mit seinen eigenen zu verwechseln. Er legt das Gesetz also aus, wie es ihm gefällt. So können die Worte des Gesetzes weiterbestehen, aber leer sein.«
»All das ist doch selbstverständlich, Kind!« warf Mattathias ein. »Es besteht doch kein Grund, das so zu sagen, als ob du eine große Entdeckung gemacht hättest!«
»Natürlich ist es selbstverständlich«, antwortete Jesus ruhig, »und trotzdem brauchen wir Propheten, die uns daran erinnern. Warum hätte sonst Amos verkündet, daß der Herr unser Volk dem vollkommenen Untergang weihen würde?«
»Und warum hat er es gesagt?« fragte Ebenezer streng.
»Weil Israel das Gesetz vergessen hatte und verdorben war.«
»Wer hat dir das Buch Amos vorgelesen?«
»Mein Vater.«
»Was hat er dir noch über Amos gesagt?«
»Daß es nicht recht ist, dem Herrn mit materiellen Gaben gefallen zu wollen, sondern durch eine aufrechte und großzügige Haltung des Geistes.«
»Auch das ist
Weitere Kostenlose Bücher