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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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ihm des Hellenen Platon ›Symposion‹ oder ›Das Gastmahl‹ zu lesen, in einer meisterlichen deutschen Übertragung, wie denn bekanntlich unsere Muttersprache dem griechischen Texte noch am ehesten von allen Sprachen gerecht zu werden vermag. Conrad las dieses Buch im Freien, zwischen Hügeln und Büschen, ohne zu ahnen, daß er sich hier auf einem der ausgesetztesten und zugigsten Gipfel aller Geistesgeschichte befand. Was ihn angenehm berührte, das war wesentlich das Gelüftete und Gewaschene dieser ganzen Welt und dieser Männer, die hier sich unterredeten und gemischten Wein tranken. Die Einfachheit gewisser Vergleiche, wie etwa jener zwischen Bogen und Leier, die Selbstverständlichkeit, mit welcher das in den letzten Jahren allenthalben so endlos beredete Kriegführen in diesen Gesprächen als ein Bestandteil des Männerlebens erschien, das ansonst wahrhaft auf andere Ziele gerichtet war – dies alles nahm ihn für das Gelesene ein, umwehte ihn, wie der frische Wind von Zeit zu Zeit den Hügel umspielte, auf welchem er lag. So glitt er, in der gesegneten Leichtigkeit dieses Vortrages treibend, über alles Schwierige darin hinweg, wie einst ›Minnesota‹ hinweggeglitten war über das in der Tiefe hausende Untier.
    Lorenz Castiletz sah dieses Buch in der Hand seines Sohnes, der es auch oftmals in der Vorhalle auf einer dort stehenden Anrichte herumliegen ließ. Jedoch fehlten dem Vater im gegebenen Falle einfach die Voraussetzungen, um zu überlegen, was jener lese. Platon – das war ein alter Grieche oder Römer, ein Bewohner von Schultaschen, und daher in irgendeiner Weise nützlich.
    Anders hätte er wohl möglich in ein paradoxes und grüblerisches Vermuten und Abwägen hineingeraten können, wobei am Ende die eine Waagschale von seinem eigenen Sohne, die andere von der mächtigen Tante Berta belastet worden wäre, mit Albert Lehnder in der Mitte als Zünglein.
    Dieser letztere befragte Conrad übrigens recht eindringlich wegen des Gelesenen, aber die Haltung des Jungen blieb eine völlig kühle und leichte, also daß sich schon beim Lehrer Geringschätzung melden wollte wegen solch schwacher Eindrucksfähigkeit, eine Geringschätzung oder Entrüstung, die sich vertreten hätte lassen, so aufs Gebiet des Bildungsmäßigen verschoben. Jedoch, auch diesem kam Conrad ahnungslos zuvor: die knappe Schilderung des Erlebnisses, wie er’s beim Lesen gehabt hatte, bewies ein blankes Gegenteil, ebenso manche Einzelheit, die der Junge hervorhob.
    Solchermaßen konnte sich Lorenz Castiletz getrost in der Bahn seiner gleich zu Anfang gerissenen Witze weiterbewegen, und zwar kühner, da sie durch sich mehrende kleine Beobachtungen vorgebaut wurde. Den trefflichen und weichfedernden Unterbau solchen Gleises indessen bildete ein betontes Gönnertum, das sich selbst wieder mit einer schon manchmal etwas unverschämten, geflissentlichen Diskretion parodierte, im Anklopfen, im Zurücktreten, im Wegbleiben. Nahm man nach Tische den schwarzen Kaffee im Freien auf großen Decken liegend – was zu den Gepflogenheiten des Hauses gehörte, wenn die Sonne warm schien – so wurde bereits die kleinere Decke für die Hausfrau und Lehnder freigehalten, die größere von der Familie Castiletz belegt, was Lorenz jedesmal noch anzuordnen für gut fand, als ob dies schon seines Amtes wäre.
    Im übrigen gab es auch halbe und ganze Tage, da Lehnder sich mit seinem Schüler in der Umgebung herumtrieb oder in der benachbarten Sommerfrische – wo der Lehrer aus seiner Aufmerksamkeit etwa für Die oder Jene vor dem Schüler kein Hehl machte – und besonders belustigend fanden sie es, nach dem Abendessen, wenn nicht gerade Karten gespielt wurde, dort drüben im Wirtshaus einen riesenhaften Steinkrug voll Bier zu heben, als »Schlaftrunk«, bei welcher Zeremonie sie sich gegenseitig mit »Hildebrand« und »Hadubrand« anzureden pflegten und dann so blödsinnig zu lachen, daß ihnen beiden das Bier bei der Nase herausschoß.
    Lehnder äußerte viel später einmal, er sei während jener ganzen Zeit sehr glücklich gewesen.
    Einstmals tönte viel Gesumm vom Wirtshause her, der Gartensaal rückwärts war erleuchtet, und aus den in die warme Sommernacht geöffneten Fenstern erklang jetzt krachende und dudelnde Blechmusik, während Kellner und Kellnerinnen, mit allen Fingern voll Bierkrügen, durch den Garten eilten, solchermaßen den Weg von der Schank zum Saale abkürzend. Die Uhr wies schon elfe, Conrad und Lehnder waren heute nach dem

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