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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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bemerkte Conrad.
    »Nein«, erwiderte Marianne, »ich trage sie nicht. Um eines ist mir heute leid. Bei den Dingen, die geraubt wurden, befand sich ein kleines und verhältnismäßig ganz wertloses Geschenk von mir, das Louison aber sehr gerne mochte und immer mit sich trug: es war eine Zigarettendose, oder eigentlich ein zierliches Schnupftabaksdöschen, aus altem Silber, das mir einmal irgendwer geglaubt hat verehren zu müssen, obwohl ich niemals rauchte. Louison hat sich frühzeitig die Zigaretten angewöhnt, und so schenkte ich ihr das Dingelchen, obwohl der Spender sogar meine Initialen hatte hineinmachen lassen, nämlich M und V.«
    Sie schwiegen.
    Conrad starrte in die weiße Hitze und sagte nach einer Weile, um ein weniges lauter sprechend, als in der herrschenden Stille eigentlich notwendig war, als müßte er einen Widerstand und eine gewisse gegenseitige Behinderung der Worte in seinem Munde zerbrechen:
    »Wie ist eigentlich das Unglück im einzelnen geschehen? Wie wurde Louison getötet, und wo?«
    Hinter ihm setzte sich eine kleine Pause ab, jedoch die Antwort kam fest und geläufig aus dem Munde der Frau:
    »Es wurde ihr mit irgendeinem stumpfen Gegenstand die Schädeldecke vollkommen zertrümmert; dies geschah in der Eisenbahn, und zwar bei Nacht. . .«
    Noch sprach sie, als von der Straße herauf ein Schrei ertönte, der aber immer noch wuchs, bis in die gellendste Höhe der Verzweiflung, das Zimmer hier ganz durchdringend, trotz des verschlossenen Fensters. Eben vorher hatte man drei – bis viermal heftig hupen gehört.
    Conrad fuhr herum und starrte zu seiner Frau empor, die jetzt ganz aufrecht im Sessel saß, die Augen gespreizt vom Entsetzen, ohne jedoch den Kopf gegen das Fenster zu wenden: nun aber stürzten sie beide hin, sich gegenseitig stoßend, und rissen es auf.
    Der Fall wurde sogleich klar, durch das Bild, welches sich bot. Einer jungen Frau war vom Gehsteig ihr Kind entlaufen, das sich von ihrer Hand gerissen hatte, gerade in seinem weißen Mäntelchen über die Fahrbahn trippelnd, als unter Signaltönen von der Hans-Hayde-Straße her ein großer schöner Wagen in die Weißenbornstraße einbog. Der Chauffeur mußte mit Entsetzen wahrnehmen, daß sein wiederholtes Hupen von der Kleinen, welche eine fest zugebundene Haube trug, nicht beachtet wurde, vielmehr das Kind geradewegs gegen den Wagen lief. Diesen aber setzte er – das kleine Mädchen nahe schon dem linken Vorderrade sehend – schließlich verzweifelt herum, das Fahrzeug sprang auf den Gehsteig beim Park, nahe am Verluste des Gleichgewichtes, legte das niedere Gitter unweit jener an der Ecke stehenden Birke um und blieb schließlich mit den Vorderrädern in der weichen Erde stecken. Im schlimmsten Augenblicke hatte die Mutter, ihr Kind verlorengebend, geschrien: und daß sie es verlorengab, gerade dies war mit seltener Ausdruckskraft aus dem Schreie zu hören gewesen, und machte ihn so sehr schrecklich. Alle rundum angesammelten Personen lobten jetzt den Lenker und versuchten zum Teile die Kleine zu trösten, die übrigens in den über ihr Leben entscheidenden Sekunden sich einfach auf ihre vier Buchstäblein gesetzt hatte, im Schreck über das unmittelbar vor ihr schwenkende große Fahrzeug.
    Conrad schloß das Fenster und ließ die gelblichen Vorhänge ineinanderfließen. Seine Frau stand durch einige Augenblicke regungslos, mit einer scharfen, zusammengezogenen Falte über der einspringenden Nasenwurzel, was ihrem Gesicht jetzt einen finsteren, eigensinnigen, ja fast gewalttätigen Ausdruck verlieh. Castiletz betrachtete Marianne betroffen, ja angstvoll. Ihm ahnte plötzlich und hellsichtig, daß hier ein heftiges Erschrecken, wie das bei starken Menschen nicht selten vorkommt, geradewegs in Zorn überzugehen drohte. Sie wandte sich kurz herum und verließ den kleinen Salon, jedoch ohne die Tür ins Vorzimmer zu schließen. Er sah, wie sie über die weite stoffbespannte Bodenfläche ging, das Badezimmer öffnete und Licht machte. Gleich danach schlug diese Türe hinter ihr laut ins Schloß.
    In Conrads Brust rumorte es, als drehe sich dort die Leere um sich selbst, wie ein Mühlrad. Was er nun plötzlich wußte – seit den Augenblicken, da er Marianne nachgeblickt hatte, während sie durchs Vorzimmer ging – war ebenso unzusammenhängend mit den letzten, eben eingetretenen Ereignissen wie unwiderleglich in seiner Gewißheit: daß er nämlich seine Frau nicht im geringsten mehr begehrte.
    Castiletz lehnte sich –

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