Ein orientalisches Maerchen
begann Kit, als plötzlich ein wunderbar warmes Lachen ertönte und sie sich neugierig aufrichtete.
„Sag ihr jetzt bloß nicht, dass du noch nichts essen magst.“ Leicht verlegen erwiderte Kit das Lachen einer zierlichen jungen Frau, die jetzt den Raum betrat und scherzhaft drohend mit dem Zeigefinger auf ein Tablett deutete, das Amina gerade auf einen kleinen Beistelltisch stellte. „Für Amina hält Essen und Trinken Leib und Seele zusammen. Und bis zum Abendessen ist es noch eine Weile hin“, bemerkte sie, während sie Kit lächelnd die Hand hinstreckte. „Ich bin übrigens Colette. Und du kannst du zu mir sagen“, stellte sie sich vor.
Gut gelaunt zog Colette eins der Sitzkissen auf den flauschigen Berberteppich neben dem Bett und machte es sich dort bequem. „Gerard konnte mir nur sagen, dass du zierlich, aber trotzdem nicht klein bist. Deswegen war ich mir bei der Kleidergröße nicht so sicher, und deinen Geschmack kannte ich natürlich auch nicht, als ich das Nachthemd für dich besorgt habe. Gefällt es dir denn trotzdem?“
„Ja, es ist wirklich sehr schön, vielen Dank“, beruhigte Kit sie. „Aber du hast dir so viel Mühe gemacht.“
„Ach, Unsinn! Nicht der Rede wert. Und außerdem war’s sozusagen ein Befehl von oben“, meinte sie fröhlich, und Kit konnte nicht anders, als das ansteckende Lächeln der jungen Frau zu erwidern. Sie wirkte so völlig anders als ihr Bruder. Sie war deutlich kleiner, knapp eins sechzig groß, ausgesprochen zierlich und hatte ein herzförmiges Gesicht mit großen grünen Augen. Ihr langes kastanien braunes Haar trug sie in der Mitte gescheitelt. Sehr anmutig sah sie aus, und ihr strahlendes Lächeln enthüllte blitzweiße Zähne. Außerdem sprach sie fließend und akzentfrei Englisch, wie Kit verwundert feststellte. Wirklich kaum zu glauben, dass die beiden Bruder und Schwester waren.
„Fühlst du dich auch wohl bei uns?“, erkundigte sich Colette besorgt.
„Ja, und ich habe nicht nur wunderbar geschlafen“, antwortete Kit lächelnd, „ich freue mich auch sehr, dich kennenzulernen.“
„Geht mir genauso“, erwiderte Colette, „obwohl ich dich mir ganz anders vorgestellt habe.“
„Wirklich?“ Kit musste unwillkürlich schmunzeln. „Komisch. Genau das habe ich eben auch über dich gedacht. Du siehst deinem Bruder nämlich nicht sehr ähnlich.“
„Na, ein Glück!“ Colette verdrehte die Augen. „Und ich empfinde das als absolutes Kompliment! Welche Frau möchte schon über eins neunzig groß und so gebaut wie Tarzan sein? Außerdem … Genau genommen, nun ja, sind wir auch nur Halbgeschwister. Gerards Mutter starb, als er noch sehr klein war, und sein Dad hat dann drei Jahre später meine Mutter kennengelernt. Sie war Amerikanerin und“, fügte sie mit einem leisen Seufzer hinzu, während sie Amina mit einem Nicken verabschiedete, „hatte oft Heimweh. Sie liebte Dad sehr, aber gleichzeitig sehnte sie sich auch nach ihren Freunden und Verwandten in Amerika. Deshalb lebte sie meist ein halbes Jahr bei Dad und uns, und dann zog es sie für die nächste Zeit wieder in ihre Heimat. Mich hat sie fast immer mitgenommen, nur Gerard wollte nie. Er blieb lieber hier in Del Mahari bei Dad. Es klingt alles ein wenig seltsam, ich weiß, aber wir hatten damit nie Probleme. Im Gegenteil: Als Mum und Dad noch lebten, hat es bei uns in der Familie, soweit ich mich erinnern kann, nie ein böses Wort gegeben.“
Kit hätte sich gern von Colettes Ungezwungenheit anstecken lassen. Doch etwas an ihren letzten Worten hatte sie geradezu schmerzhaft an etwas erinnert. Wenige Sekunden nur dauerte dieser Moment, doch er hatte ihr einen Stich direkt ins Herz versetzt.
„Ist alles in Ordnung mit dir? Du wirkst so …“, fragte Colette besorgt.
„Ruhebedürftig, so wirkt sie, Schwesterherz. Du kannst ja auch reden wie ein Wasserfall.“
Beide Frauen fuhren herum, als sie die tiefe Stimme hörten. Kits Herz setzte einen Schlag aus und pochte dann wie wild. Starr betrachtete sie den Mann, der dort an der Tür stand. Ließ den Blick über sein braunes Haar schweifen, das in der Sonne schimmerte. Zum ersten Mal sah sie ihn in traditionell marokkanischer Tracht. Seine schmalen Hüften und seine muskulösen langen Beine steckten in einer legeren Baumwollhose. Darüber trug er einen knielangen Kaftan aus edler Seide, der von einer bestickten Schärpe zusammengehalten wurde und am Hals tief eingeschnitten war. Er gab den Blick auf seinen muskulösen Oberkörper frei.
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