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Ein orientalisches Maerchen

Ein orientalisches Maerchen

Titel: Ein orientalisches Maerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Brooks
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Erst das linke Bein, dann das rechte …
    „Marokkaner sind sehr gastfreundlich. Sie laden sich gern Gäste ein und zelebrieren Essen als ein Gemeinschaftserlebnis.“ Stolz lächelnd, deutete Gerard mit der Hand auf eins der bestickten Sitzkissen, die rund um einen großen, niedrigen Tisch verteilt waren. „Gegessen wird in zwangloser Runde nicht mit Besteck, sondern mit den Fingern. Ich hoffe, das magst du?“ Als er sah, wie überrascht sie war, zog er amüsiert eine Augenbraue hoch und lächelte. „Amina wird dir gleich Wasser reichen, damit du dir deine rechte Hand waschen kannst. Denn deine linke darf die Speisen nicht berühren.“
    „Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“ Kit gab sich gelassen und ließ sich auf einem der Sitzkissen nieder.
    „Nun, die linke Hand gilt in arabischen Ländern als unrein“, antwortete er und setzte sich Kit genau gegenüber.
    „Vorschriftsmäßig isst man auch nur mit drei Fingern: dem Daumen, dem Zeigefinger und dem Mittelfinger. Lediglich die Unersättlichen nehmen vier oder fünf Finger. Und wer nur einen Finger nimmt, na ja“, seine dunklen Augen blitzten schalkhaft, „bei dem hat eindeutig der Teufel seine Hände im Spiel.“
    Kit verzog leicht gequält den Mund.
    „Ach, hör nicht auf ihn. Das ist Schnee von gestern. Es sollte nur ein Witz sein.“ Colette bedachte ihren Bruder mit einem Kopfschütteln und setzte sich neben ihn. „Gerard verfügt nämlich über einen ganz besonderen Humor. Der im Übrigen nur eines seiner vielen genetischen Geschenke ist und zu denen, man sollte es nicht glauben – tatsächlich auch ein funktionstüchtiges Herz gehört!“
    Colette wirkte zufrieden über den kleinen Coup, den sie gelandet hatte. Gerard aber bemühte sich grimmig um eine gute Miene zum bösen Spiel.
    Kit antwortete nur mit einem verlegenen Lächeln, denn es fiel ihr noch immer schwer, sich unter den Augen Gerard Dumonts ungezwungen zu geben. Als Halima die ersten Schüsseln mit Essen brachte, war sie deshalb froh über die Ablenkung. Dann erschien auch Amina mit Handtüchern, einer Art Wasserkessel und schließlich einer großen Tonschale, die zum Auffangen des Wassers diente, wie Gerard Kit erklärte. Nachdem Amina es ihr gezeigt hatte, hielt sie ihre rechte Hand über die Schale, und die Marokkanerin benetzte sie mit warmem Wasser, das leicht süß nach Rosen duftete.
    „Es ist tatsächlich echtes Rosenwasser“, erklärte Gerard mit einem Lächeln auf Kits fragenden Blick. „Im größten Rosenanbaugebiet Marokkos, dem Tal der Rosen, wurden schon vor langer Zeit riesige Felder mit stark duftenden Rosensorten bepflanzt. Ganze Blütenmeere werden heute immer noch per Hand gepflückt und in großen Kesseln in Wasser langsam gesiedet. Der aufsteigende Dampf nimmt das Öl auf, zieht durch Kühlrohre und kondensiert, wird zum flüssigen Rosenöl, das man auch Attar nennt – nach dem arabischen Wort für Parfüm. Wegen der aufwendigen Herstellung ist echtes Rosenöl die teuerste ätherische Essenz und wird gern bei religiösen Zeremonien verwendet. Und heute“, er lächelte Kit zu, „zur Feier des Tages, natürlich auch.“
    Sie quälte sich wieder nur ein Grinsen ab. „Und was, bitte, feiert ihr heute?“, fragte sie, bemühte sich aber wenigstens um einen gelassenen Tonfall.
    „ Eh bien, wie ich schon sagte …“, seine dunklen Augen nahmen sie ins Visier, „… in diesem Land ist man sehr gastfreundlich. Dazu gehört, dass man seinen Gästen stets das Beste vorsetzt, was man ihnen bieten kann – und es sich auch etwas kosten lässt. Falls du es also immer noch nicht glauben solltest: Ich weiß, was sich gehört, ich bin weder der Barbar noch der Banause, für den du mich hältst.“
    Kit unterbrach den Blickkontakt, nur Colette gab sich gelassen, als hätte sie nichts bemerkt.
    „Ach, hier in Marokko sind wir schon fast an Vorurteile dieser Art gewöhnt.“ Sie machte eine abwehrende Handbewegung. „Europäer halten die Menschen im Orient nicht nur für geheimnisvoll, sondern leider oft auch für rückständig und ungebildet. Mir macht das nicht mehr so viel aus. Aber Gerard versetzt das immer noch in wilde Aufregung. Obwohl er natürlich nicht in diesem Sinne zu den Wilden gehört. Im Gegenteil: Er ist einer der gebildetsten Menschen, die ich kenne. Allein was er dir alles über Marokko erzählen und zeigen kann …“
    „Deshalb musst du mich ja unserem Gast nicht gleich als Fremdenführer aufdrängen. Im Übrigen habe ich ihr das Angebot bereits

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