Ein Ort für die Ewigkeit
zusammenkniff.
* * *
Janet Carter hatte gebeten und gebettelt, nach Alisons Verschwinden von der Schule zu Hause bleiben zu dürfen. Das hätte sie sich sparen können. In den Zeiten damals, 1963, hatten Kinder nicht die gleichen Gefühle wie Erwachsene zu haben. Die Erwachsenen erzählten ihnen alles mögliche, um sie zu behüten und zu beschützen. Das Schlimmste war ihrer Meinung nach eine Unterbrechung der gewohnten Abläufe, denn nichts konnte den Jugendlichen ein deutlicheres Signal geben, daß etwas ernstlich nicht in Ordnung war. Auch wenn man also in dem kleinen Tal kurz vor dem Weltuntergang gestanden hätte, wären Janet und die anderen Kinder doch am Ende der Dorfstraße abgesetzt und in die Schule geschafft worden, als sei es ein ganz normaler Morgen.
Aber als sie schließlich in der Schule erschien, war es ganz unverhofft spannend geworden. Erstens stand sie ausnahmsweise einmal im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, denn alle wußten, daß Alison vermißt wurde. Die Polizei kam und sprach mit Alisons Klassenkameradinnen und ihren Lehrern. In der Pause gab es nur ein Thema, und Janet verfügte über das Insiderwissen. Sie war auf ihre bescheidene Art plötzlich eine Berühmtheit. Das war genug, um den Schrecken zu vergessen, der sie die halbe Nacht hatte wach liegen lassen, weil sie sich fragte, wo Alison war und was ihr passierte.
Eine fast genüßliche Angst lag in der Luft, das Gefühl, daß etwas Verbotenes geschehen sei, dessen Bedeutung die Kinder nicht recht erfassen konnten. Nicht einmal wenn sie auf einer Farm lebten. Sie wußten, was Tiere miteinander taten, aber irgendwie sahen sie nie die Verbindung zwischen Tieren und Menschen. Natürlich hatten alle einmal von Mädchen gehört, an denen sich jemand »vergangen« hatte, aber keine war sich darüber im klaren, was es wirklich bedeutete, außer daß es etwas mit »da unten« zu tun hatte und mit dem, was Mädchen passierte, wenn sie einen Jungen »zu weit« gehen ließen. Und dabei hatten die meisten nicht einmal eine Ahnung, was zu weit war.
Die Stimmung an der Peak Girls’ High School war also sehr gespannt, nachdem Alison verschwunden war. Obwohl die meisten ihrer Klassenkameradinnen ebenso große Angst hatten und so nervös und fast so besorgt waren wie Janet, empfanden einige doch zugleich ein gewisses lustvolles Vergnügen. Dabei wußten sie, daß es eigentlich verwerflich war, so zu fühlen. Donnerstag und Freitag waren mit all diesen aufgewühlten Emotionen anstrengende Schultage gewesen. Als es endlich zum letzten Mal klingelte, konnte Janet nur noch daran denken, nach Haus zu kommen und sich von ihrer Mutter bei einer Tasse Tee umsorgen zu lassen.
Sie hatte nur wenig Kraft für den Schock übrig, der sie im Schulbus erwartete. Der Fahrer platzte mit der Nachricht heraus, Alisons Onkel sei auf der Polizeiwache und werde dort verhört. Ihre Reaktion war heftig und prompt. Es war, als schottete sie sich nach außen völlig ab. Sie saß auf dem vorderen Sitz, wo sie immer mit Alison gesessen hatte, so nah wie möglich beim Fahrer. »Welcher Onkel?« fragte Derek.
Der Fahrer wollte gerade einen der üblichen Witze darüber machen, daß in Scardale jeder mit jedem verwandt sei, sah aber gleich, daß Janet dafür nicht in Stimmung war. So sagte er einfach: »Peter Crowther.«
Janet runzelte die Stirn. »Es muß ein anderer Crowther sein, keiner aus Scardale. Alison hat keinen Onkel Peter.«
»Das weißt du eben nicht«, sagte er augenzwinkernd. »Peter Crowther ist der bekloppte Bruder von Alisons Mutter. Der, den sie aus Scardale weggeschickt haben.«
Janet sah Derek an, der die Schultern zuckte und genauso verblüfft und verwirrt war wie sie. Sie hatten nie auch nur ein Wort über einen zweiten Bruder der Crowthers gehört. Sein Name war nie erwähnt worden.
Bis ans Ende der Straße redete der Busfahrer weiter über Peter Crowther, der in einem Heim wohne und in einer Werkstatt für Spinner arbeite, die die Stadt für nicht bekloppt genug hielt, um sie einzusperren, und daß es angeblich in seiner Vergangenheit ein dunkles Geheimnis gegeben hätte und die Polizei jetzt der Meinung sei, er habe Alison umgebracht. Janet schaute starr auf seinen dicken roten Nacken und wünschte ihm den Tod.
Aber noch mehr wünschte sie, die Wahrheit zu erfahren. Ihr Vater wartete am Ende der Straße auf den Bus, der die Kinder absetzte. Er war schon seit zehn Minuten da; niemand in Scardale wollte ein Risiko eingehen. Als erstes sagte Janet,
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