Ein Ort zum sterben
sagen.«
Während sie sich um Kaffee und Croissants anstellten, erzählte er ihr von seiner neuen Teilhaberin, und als sie sich einen Platz unter einem Sonnenschirm mit Blick auf die steinernen Löwen der New Yorker Bibliothek und den brausenden Verkehr der Fifth Avenue gesucht hatten, war er in seinem Bericht gerade bei dem Gegenstand seiner derzeitigen Ermittlung angekommen.
»Ja, das ist er«, bestätigte sie. »Als ich ihn kennenlernte, war er persönlicher Referent eines Senators und ein unheimlich gut aussehender Bursche. Wir haben oft zusammen getanzt. Er war einer der wenigen Tanzpartner, die größer waren als ich. Später hat er sich zu meinem Kummer in seinem Heimatstaat als Anwalt niedergelassen.«
»Hast du ihn noch mal wiedergesehen?«
»Ja, viele Jahre danach. Wir waren beide unverheiratet geblieben. Wir tanzten wieder zusammen. Diesmal war er als Kongreßabgeordneter nach Washington gekommen, und nach zwei Amtsperioden im Repräsentantenhaus kandidierte er für den Senat.«
»Mit Erfolg?«
»Nicht beim ersten- und auch nicht beim zweiten Mal, aber dann klappte es doch noch. Danach hatte er wieder eine private Anwaltspraxis und kam dann an den Bundesgerichtshof. Eine sehr ehrenvolle Berufung. Er ist ein außergewöhnlicher Mensch, ich verfolge seine Karriere mit großem Interesse.«
»Hat er mal über den Jungen mit dir gesprochen?«
»Ja. Der Fall ließ ihn nicht los.«
»In seinen Vorträgen und Artikeln ist nie davon die Rede. So, als ob er ihn einfach verdrängt hat.«
»Möchtest du mit ihm sprechen?«
»Wäre das möglich?«
»Glaubst du etwa, er hätte mich vergessen?«
»Aber nein …« Eine Frau wie sie vergaß man nicht. Wenn eine Mitarbeiterin heute Nachmittag dem Richter ihren Namen nannte, würde er nicht erst mühsam im Gedächtnis kramen müssen, um sich ihr Gesicht in Erinnerung zu rufen.
Sie verabschiedeten sich, er half ihr in ein Taxi und ging dann noch einmal zurück in die Bibliothek, um nach dem dritten Foto in Edith Candles Silberrahmensammlung zu fahnden.
Er versuchte das Datum einzukreisen und drehte in schwindelerregendem Tempo an den Knöpfen des Lesegeräts, ohne daß ihm ein Wort entging. Es mußte während seines Sabbatjahres in Europa passiert sein.
Ja, da war sie, die strahlende Braut, die noch nicht ahnte, daß der Verlobte sie am Vorabend der Hochzeit erschießen würde. Wie kam er jetzt an die Einzelheiten heran? Dumme Frage! Es gab nichts, was Mallory ihm nicht beschaffen konnte. Trotzdem … in diesem Fall war es wohl besser, auf ihre Hilfe zu verzichten.
Sergeant Riker war ein anständiger Kerl, er würde ihm helfen und ihn nicht bei Mallory verpetzen.
Als Henry Cathery unten auf der Straße Redwing sah, kam plötzlich eine große Klarheit über ihn. War es nicht noch zu früh für die nächste Séance? Seine Zerstreutheit, die sich sonst nur beim Schachspielen verlor, war mit einem Schlag verschwunden.
Hinter ihm läutete das Telefon. Es läutete schon den ganzen Tag. So hartnäckig war kein normaler Mensch, nicht mal ein Polizist oder Vertreter. Es mußte Margot sein, die wieder mal Geld wollte. Wenn er nicht aufpaßte, knöpfte sie ihm noch seinen letzten Dollar ab.
Er betrachtete die Frau dort unten auf dem Gehsteig, eine Randfigur auf dem großen Schachbrett Gramercy Square. Sekundenlang sah er alles glasklar vor sich – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dann war es vorbei, und ihm blieb nur noch die Überlegung, ob er dem Lärmen des Telefons ein Ende machen sollte oder nicht. Entschlossen stellte er den Rufton ab, dann ging er langsam in die Küche. Er wollte etwas essen, hatte aber keine Ahnung, wie er das Zeugs aus den Dosen herauskriegen sollte. Henry Cathery hatte einen IQ von einhundertfünfundachtzig!
»Sehr freundlich, daß Sie zurückrufen, Sir«, sagte Charles. Angesichts der guten Beziehungen, die hier im Spiel waren, hatte er es allerdings nicht anders erwartet.
»Ihre Nachricht hat mich verständlicherweise neugierig gemacht. Daß sich noch mal jemand für den Jungen interessieren würde, hätte ich nie gedacht. Harte Sache, einen Klienten auf diese Art zu verlieren. Ob durch einen staatlich verordneten Strick oder durch Selbstmord, bleibt sich da letztlich gleich.«
In seiner Stimme schwang der Tonfall des Mittelwestens. Und einiges an Emotionen. Hier war nicht von fernen Erinnerungen die Rede, sondern von Dingen, die bis heute sehr lebendig geblieben waren.
»Aber der Junge war doch schuldig,
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