Ein Ort zum sterben
ging um den Paravent herum durch einen Gang aus Kleiderständern zu der alten Dame, die unter einer fünf Meter hohen Guillotine kniete. Über dem weißen Haar trug sie einen roten Turban, der Hals lag zwischen den Pfosten in einem hölzernen Bügel mit Öffnungen für Kopf und Hände. Genau über ihrem Nacken hing ein breites, bösartig blitzendes Fallbeil.
Edith nickte lächelnd zu einem verschnörkelten goldenen Hebel hinüber, der seitlich an der Guillotine angebracht war. »Ziehen Sie daran, Kind.«
Mallory schüttelte einigermaßen ratlos den Kopf. Das war kein fauler Zauber, kein Spiegeltrick. Unter dem scharf geschliffenen Fallbeil kniete keine Wachsfigur, sondern die leibhaftige Edith, die eben noch mit ihr gesprochen hatte.
Ein unheilverkündendes Knirschen … Mallory sah rasch nach oben. War der Mechanismus ins Rutschen gekommen? Ihr Magen krampfte sich zusammen. Wie gebannt sah sie auf das Fallbeil. Hatte es sich ein Stück gesenkt, der Winkel sich verändert?
Das Gestänge klickte.
Edith stieß einen Schrei aus, und ein auf der Guillotine befestigter leuchtender Sonnenball tauchte jäh den ganzen Raum in grelles Licht. Mit vorgestreckten Händen und halb blind lief Mallory auf die Guillotine zu, war fast am Ziel – da sauste das Fallbeil herunter, der Kopf mit dem blutigen Stumpf fiel von dem hölzernen Bügel und rollte über den Boden. Der Torso zuckte noch eine Weile wie im Krampf, dann lag er still.
Mallory war zu Eis erstarrt. Sie brachte keinen Ton heraus.
Der Kopf zu ihren Füßen lachte.
Nein, doch nicht … Ganz allmählich stellten sich Mallorys Augen auf die neuen Lichtverhältnisse ein. Was vor ihr lag, war das wächserne Abbild einer Edith aus jüngeren Jahren. Unversehrt richtete Edith Candle sich auf.
»Ihr Gesicht …«, stieß sie hervor. Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen, Bauch und Busen bibberten. »Ihr Gesicht hätten Sie sehen sollen! Kein Wunder, daß wir mit dieser Nummer so durchschlagenden Erfolg hatten. Die Zuschauer glaubten alle an ein Unglück und schrien wie am Spieß. Bei den Nummern von Max ging es meist um Leben und Tod, das war sein Markenzeichen.«
Weil sie fürchtete, ihre Knie könnten einknicken, setzte Mallory sich schnell auf den Fußboden. »Das war wirklich ganz schön hart.«
Edith zog aus dem Gewirr von Requisiten einen Schemel hervor und setzte sich neben Mallory. »Viel darf ich Ihnen zu den Nummern von Max nicht sagen, die Zunft hat einen strengen Ehrenkodex. Nur soviel vielleicht: Die entscheidende Rolle bei diesem Trick spielt das Licht. Während das Auge adaptiert, sieht man einen Moment alles nur verschwommen. Man sieht das, was man zu sehen erwartet – nämlich einen Betriebsunfall. Mehr kann ich Ihnen nicht verraten, ich darf Ihnen nicht mal zeigen, wie das Licht angeht. Auch das ist Berufsgeheimnis.«
Mallory sah sich genötigt, ihre Vorstellung von netten alten Damen grundlegend zu revidieren. Sie musterte Edith voller Hochachtung. Kein Zweifel, hier war sie an der richtigen Adresse.
»Wie sehen die Tricks der Medien aus?«
»Es gibt natürlich Unterschiede zwischen Magiern und Spiritisten, aber beide arbeiten mit den Mitteln der Irreführung und Spiegelfechterei. Eine Klientin erzählte mir mal von einem Medium in der Forty-second Street, das Gegenstände zum Fliegen brachte. Das könnte ich Ihnen vorführen.«
»Mit Draht?«
»Nein, mit Schwarzer Kunst.«
»Schwarzer Kunst?«
»Nicht das, was Sie denken. Keine Spur von Okkultismus! Schwarze Kunst ist die Tarnung von Schwarz mit Schwarz. Man braucht dazu einen Handspiegel und einen vollständig abgedunkelten Raum. Es genügt, wenn sich der Gegenstand nur wenige Zentimeter in die Luft erhebt. Zu viel ist eher von Übel und riecht nach Fälschung. Wenige Zentimeter Levitation in einem schräg gehaltenen Spiegel sind glaubhafter und irgendwie unheimlicher. Dazu braucht das Medium einen Komplizen, der sich frei im Raum bewegen kann.«
»Sie bringt immer einen kleinen Jungen mit.«
»Mit einem Gehilfen hat man wesentlich mehr Möglichkeiten.«
»Sie soll eine ausgeprägte technische Begabung haben.«
»Erwarten Sie nichts Ausgefallenes, keine holographischen Bilder oder dergleichen. Je simpler der Trick ist, desto besser wirkt er. Sie wird kaum mit High-Tech-Geräten zu ihren Klienten kommen.«
»Aber sie zieht mit Hilfe des Computers Erkundigungen über ihre Opfer ein.«
»Klienten, Kind. Bei Opfern denkt man immer an faule Tricks und vergißt gern, daß sich die
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