Ein paar Tage Licht
als hätte es sie nie gegeben.
Noch während er sich vom Wagen löste, durchschlug eine Kugel seinen Waffenarm.
Er nahm die Pistole in die linke Hand, ging weiter. Fand kein Ziel, plötzlich waren die Angreifer fort, vielleicht sah er sie auch nur nicht mehr, der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen und machte ihn fast besinnungslos. Er blinzelte, sah die Lkw-Fahrer vor sich auf dem Asphalt, einer sprach in panischer Angst, Polnisch, immer dieselben paar Wörter, wie ein Gebet, konnte nicht aufhören. Weit hinten, beim letzten Lastzug, erkannte er Bewegungen, dort also waren sie, dachte er, aber dann rief eine Stimme aus der Nähe: »Vous êtes Eley, n’est-ce pas?«
Überrascht blieb er stehen.
»Weg mit der Waffe!«, rief die Stimme.
Er hob den Arm, schoss in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Ein mächtiger Schlag gegen die Brust stieß ihn nach hinten. Er kam auf dem Hintern zu sitzen, konnte kaum atmen. Seine Sicht war plötzlich klar, da waren die Angreifer wieder, liefen herum, zerrten die Fahrer von der Straße, algerische Wörter flogen durch die Luft.
Ein Mann kniete sich neben ihn, die Augen über dem schwarzen Schal hart, die Stimme gleichgültig. »Sie wollten nicht hören«, sagte er auf Französisch.
»Nächstes Mal«, krächzte Eley, doch der Mann war schon weg.
Er ließ sich zur Seite sinken, dann auf den Rücken, sah Baumwipfel über sich, hörte jetzt nichts mehr, nur ein mächtiges Rauschen, das Rauschen eines Baches in den Bergen südlich von Algier zwischen Medea und Blida auf eintausend Metern Höhe. Er lag am Ufer des Baches, auf der Brust drückend schwer ein helles, lächelndes Gesicht, und blickte zu den kahlen Wipfeln der Zedern hinauf, die plötzlich eine andere Färbung annahmen, gelb wurden, alles wurde jetzt gelb, aber das spielte keine Rolle, er war sehr glücklich, er wohnte jetzt hier, in den gelben Bergen Algeriens.
72
PESSIN
»Zwei Mal noch«, sagte Hamit leise. »Drei Mal insgesamt.«
»Drei Mal«, sagte Benmedi.
Er tauchte den Waschlappen in die Schüssel mit warmem Seifenwasser, wrang ihn aus und strich damit erneut über den kalten, starren Körper. Sie hatten eine Decke und Handtücher auf den Küchentisch gelegt, Djamel darauf gebettet, der nackt war, bis auf einen weißen Verband um den Hals.
»Die Ohren nicht vergessen«, sagte Hamit.
Benmedi nickte. Wusch das Grauenhafte weg, das Djamel hatte hören müssen. Alles, was er hatte sehen müssen. Das Böse, das er gesagt hatte. Er machte mit den Schultern weiter, wusch alles Schlechte weg, all die Fehler, die der Junge begangen, das Leid, das er erlitten hatte. Die Fehler, die er selbst begangen hatte und die an Djamel haften geblieben waren.
Wusch all die schmerzhaften Erinnerungen weg.
Den Abend, an dem der Vater verschwunden war. Die Tage vor dem Serkadji. Die Jahre der Suche. All die anderen schlimmen Erinnerungen, über die sie nie gesprochen hatten.
Als Letztes wusch er die Füße, säuberte sie von allem Dreck, durch den der Junge hatte gehen müssen.
Er hielt inne, sein Blick kehrte zu dem fahlen Gesicht zurück. Im Tod, dachte er, war Djamel noch mehr Mouloud als im Leben. Obwohl er nicht mehr gestikulierte, nicht mehr lächelte, nicht mehr sprach. Jetzt waren es die Form der Augenbrauen, die weiche Rundung des Kinns, die Blässe.
Die Nachdenklichkeit.
Sogar die feinen Linien der Stirnfalten wie bei Mouloud.
»Noch mal«, sagte Hamit.
»So?«
Benmedi streifte den Waschlappen von der Hand und tunkte ihn ins Wasser. Er wrang ihn aus, zog ihn wieder über.
Wusch dem Mouloud den Dreck von der Haut.
Das Leid, das der rasende Vater ihm, ohne es zu wollen, ohne es zu verhindern, zugefügt hatte. Die Angst im Serkadji. All das Blut im Serkadji. Wusch ihm die Schmerzensschreie von den Lippen.
Hamits Stimme. »Möchten Sie eine Pause machen?«
»Nein«, flüsterte er.
Säuberte die kalte Haut von seinen Tränen.
Gemeinsam drehten sie den Toten auf den Bauch.
Wie vor zweiundfünfzig Jahren wusch er seinem Kind den Popo.
»Gut«, sagte er schließlich.
Hamit ging zur Vitrine und kam mit den Tüchern zurück. Benmedi schüttelte sie auf, sie rochen frisch, nach Laub, nach Herbst, er hatte sie am Vorabend in einer Regenpause auf die Wäscheleine im Garten gehängt und später gebügelt.
So viel Regen … Im Frühling musst du kommen, Djamel, da ist es schön hier.
Sie hüllten den Leichnam in das erste Tuch, dann in ein zweites, in ein drittes. Als sie fertig waren, zog Hamit seine
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