Ein perfekter Freund
den sechzehnten Mai um fünfzehn Uhr. Und Freitag, den achtzehnten, um siebzehn Uhr. Hilft Ihnen das?«
»Das hilft mir sehr, danke.« Er wünschte ihr schöne Ferien und erkundigte sich, wo sie sei. Sie war in Amalfi.
Das Ehepaar wurde ins Sprechzimmer gebeten. Die Frau warf Fabio einen triumphierenden Blick zu. Er schaltete sein Handy aus, steckte es ein und setzte sich.
Weshalb ein zweiter Besuch? Für die vierzig Zeilen Interview war schon das erste Gespräch zu lang gewesen. Worum ging es im zweiten? Und warum hatte sie sein Anruf beunruhigt? »Ich dachte, die Sache sei erledigt.«
Welche Sache? Die große?
Fabio wurde ins Sprechzimmer gerufen. Dr. Berthod erwartete ihn. Er bat ihn, sich auf den Untersuchungstisch zu legen. Sofort begann er, sein Gesicht zu betasten. »Irgendeine Veränderung?«
Fabio verneinte.
»Und sonst?«
»Gleichgewichtsstörungen.«
»Tun Sie etwas dagegen?«
»Tai Chi.«
»Gut. Es wird vorbeigehen. Kommt oft vor. Kein Grund zur Sorge. Wie ist es mit den Erinnerungen.«
»Ich arbeite daran. Bisher ohne Erfolg.«
»Waren Sie schon einmal dort, wo man Sie aufgegriffen hat?« Fabio schüttelte den Kopf.
»Versuchen Sie es einmal. Manchmal bringt das etwas.
Schauplätze. Bilder. Gerüche.«
Dr. Berthod entfernte die Fäden an Fabios Kopf, wünschte ihm viel Glück und bat ihn, sich im Vorzimmer einen Termin in vier Wochen geben zu lassen.
Das Wagenmaterial, das auf der Neunzehnerlinie fuhr, war alt. Die Strecke führte durch eines der schlechteren Quartiere der Stadt. Die Wagen waren voller Graffiti, gesprayte, aus wasserfestem Filzstift gemalte oder mit Messern in die Sitze und Lehnen geritzte.
Fabio Rossi saß im Anhänger. Dieser war halb voll. Ältere Leute, Schüler, Hausfrauen.
An einer Station stiegen drei junge Leute zu, zwei Frauen und ein Mann. Sie gehörten zusammen, aber sobald sie eingestiegen waren, verteilten sie sich über den ganzen Anhänger. Fabio fand das seltsam. Er ließ die drei nicht aus den Augen.
Als das Tram anfuhr, sagte eine der jungen Frauen laut in die Stille: »Die Nacht.«
Niemand schaute sich um. Jetzt machte sich der junge Mann beim mittleren Eingang bemerkbar.
»Wie schön, hier zu verträumen Die Nacht im stillen Wald, Wenn in den dunklen Bäumen Das alte Märchen hallt.«
Die Fahrgäste verschlossen ihre Gesichter und hofften, der wolle kein Geld. Die erste junge Frau fuhr fort:
»Die Berg im Mondesschimmer Wie in Gedanken stehn , Und durch verworrne Trümmer Die Quellen klagend gehn.«
Von ganz vorn ertönte die hohe Stimme der dritten, jüngsten Frau, im gleichen geschulten Bühnendeutsch.
»Denn müd ging auf den Matten Die Schönheit nun zur Ruh , Es deckt mit kühlen Schatten Die Nacht das Liebchen zu.«
Das Neunzehnertram ratterte an den abgasgeschwärzten Fassaden vorbei. Kiosk, Kneipe, Sexshop, türkische Spezialitäten, Fahrradgeschäft. Fabio kämpfte mit den Tränen. Das Bild der ersten Frau verschwamm. Ihre Stimme fuhr fort.
»Das ist das irre Klagen In stiller Waldespracht, Die Nachtigallen schlagen Von ihr die ganze Nacht.«
»Gußofenstraße, umsteigen Aufeld«, kündigte die Lautsprecherstimme des Tramfahrers an. Der junge Mann übernahm.
»Die Stern gehn auf und nieder Wann kommst du, Morgenwind, Und hebst die Schatten wieder Von dem verträumten Kind?«
»Wir sind Schüler der Schauspielakademie und wollen Sie mit dieser Aktion auf unseren Tag der offenen Tür am kommenden Samstag aufmerksam machen«, verkündete die erste Frau. Die drei machten sich zum Aussteigen bereit.
Fabio ging zu dem jungen Mann. »Von wem war das, bitte?«
»Joseph von Eichendorff«, antwortete der. Die Tür öffnete sich, und er stieg aus.
»Danke«, rief ihm Fabio nach, »war schön.«
In der Schlaufe der Endstation Wiesenhalde stand noch der Neunzehner des früheren Kurses. Ein offenes Tramhäuschen mit zwei Sitzbänken und einem Papierkorb, ein geschlossener Kiosk, ein vollgesprayter Fahrscheinautomat. Dahinter eine Vorortsstraße, von der eine Abzweigung in den überbauten Hügel führte. »Friedhof« stand auf einem Wegweiser.
Fabio hatte die Reihenhäuser hinter sich gelassen und ging jetzt im Schatten des Buchenwäldchens, das die Straße begrenzte. Sein verschwitztes weißes Polohemd klebte an seinem Körper. Außer ihm war niemand unterwegs.
Das Wäldchen endete an der Friedhofsmauer. Fabio ging weiter bis zum schmiedeeisernen Tor. Zwei Verbotsschilder, eines für Hunde, eines für Hupen, und ein Schild mit den
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