Ein perfektes Leben
nicht blicken, und in der Zentrale herrschte so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Auch die Sekretärinnen und Büroangestellten, die Spezialisten vom Erkennungsdienst und die Laborangestellten nahmen ihren freien Tag. Für vierundzwanzig Stunden verlor die Zentrale den unbändigen, stürmischen Rhythmus der Woche. Nur der Bereitschaftsdienst und diejenigen Ermittler, deren Fälle keinen Aufschub duldeten, befanden sich in dem Gebäude, das an Sonntagvormittagen größer, dunkler und weniger menschlich wirkte. Man konnte sogar das Geräusch hören, mit dem die gelangweilten Beamten ihre Dominosteine hin und her schoben. Nur Mayor Rangel arbeitete auch an Sonntagen, und das seit fünfzehn Jahren. Der Alte musste die Fäden, die seine Untergebenen während der Woche gesponnen hatten, in der Hand halten. Wie ein Besessener verfolgte er die Spuren jeder Ermittlung, von Montag bis Sonntag. El Conde wusste, dass die Meldung des Dienst habenden Offiziers weniger ein Befehl als ein Bedürfnis seines Chefs war. Und so bat er Manolo, die Berichte entgegenzunehmen und ihn in einer halben Stunde in seinem Büro, dem Brutofen, zu erwarten.
Die friedliche Stille im Gebäude veranlasste ihn, auf den Fahrstuhl zu warten. Die Leuchtziffern zeigten an, dass er sich auf dem Weg nach unten befand. Vier, drei, zwei, und dann öffnete sich die Tür wie der Theatervorhang, an den Mario immer denken musste. Beinahe wäre er mit dem Mann, der den Fahrstuhl verließ, zusammengestoßen.
»Maestro, wollen Sie die Sonntagsruhe heute nicht einhalten?«
Capitán Jorrín lächelte und klopfte dem jungen Kollegen auf die Schulter. »Und du, Conde? Willst du dir einen Kühlschrank verdienen?«, fragte er zurück. Er fasste Mario am Arm und zwang ihn so, ihn bis zur Abteilung des Erkennungsdienstes zu begleiten. Der Teniente wollte ihm erklären, dass der Alte ihn erwartete, doch dann sagte er sich, dass der Mayor warten könne.
»Wie kommen Sie voran, Capitán?«
»Ich glaube, ganz gut, Conde, ich glaube, ganz gut.« Der alte Jorrín lächelte beinahe. »Es ist ein Zeuge aufgetaucht, der möglicherweise einen der Mörder des Jungen identifizieren kann. Inzwischen wissen wir, dass sie zu dritt waren und, laut Zeuge, ziemlich jung. Jetzt werden wir das Phantombild anfertigen.«
»Sehen Sie, Maestro, von irgendwoher kommt immer ein Licht, stimmts?«
»Ja, immer, aber das löst nicht das Problem … Überleg mal, am Ende fassen wir die Mörder, und dann sind sie noch keine achtzehn Jahre alt! Das ist das eigentliche Problem. Es geht nicht nur um einen Jungen, den man totgeschlagen hat. Da sind dann noch drei weitere, die für ein paar Jahre in den Knast gehen und nie mehr die Menschen sind, die sie eigentlich werden sollten. Sie haben getötet.«
Mario Conde betrachtete die Falten, die das Gesicht von Capitán Jorrín durchfurchten, während er am Arm den verzweifelten Druck der Hand jenes Mannes spürte, der sein halbes Leben damit zugebracht hatte, Verbrecher zu jagen.
»Am Anfang hab ich gedacht, uns geht es so ähnlich wie den Ärzten«, sagte er schließlich und schaute dem Alten ins Gesicht. »Dass wir uns mit der Zeit an das Blut gewöhnen.«
»Nein, hoffentlich passiert uns so was nie! Solche Dinge müssen uns wehtun, Conde. Und wenn sie dir eines Tages nicht mehr wehtun, dann hau ab!«
»Viel Glück, Maestro«, sagte Mario, als sie vor der Tür des Erkennungsdienstes angelangt waren, und ging zur Treppe.
Auch Maruchis Schreibtisch verbreitete einen sonntäglichen Charme. Er war sauber aufgeräumt und sah verlassen, beinahe traurig aus ohne die Blume, die die Sekretärin jeden Morgen mit ins Büro brachte. Mario hörte die Stimme des Mayors. Er klopfte leise an dessen Tür.
»Ja, komm rein!«
Der Alte saß in Zivil hinter dem Schreibtisch. Sein grau-weiß gestreiftes T-Shirt saß stramm über dem Brustkorb und ließ die kräftigen Halsmuskeln sehen. Der Mayor bedeutete Mario Platz zu nehmen und fuhr fort zu telefonieren. Er sprach mit seiner Tochter. Irgendetwas war passiert. Mach dir keine Sorgen, Mirna, sagte er zu ihr, nach all dem … Ja, gut, ruf deine Mutter an und sag ihr, wir essen bei dir zu Mittag, ich hol sie ab … Ja, und gib dem Kleinen einen Kuss von mir, ja? … Ja, ja, natürlich. Er legte auf. Die ganze Zeit über hatte er mit sanfter, warmherziger Stimme gesprochen, zweifellos der angenehmsten seines weit gefächerten Repertoires an Stimmen, die Mario Conde von ihm kannte.
»Was für ein Theater, Mann«, sagte der
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