Ein plötzlicher Todesfall
Parminder: Sie sind froh. Sie glauben, sie gewinnen jetzt.
Wieder sprang sie auf, ging hinüber ins Wohnzimmer und nahm vom obersten Regal eine Ausgabe von Sainchis herunter, ihr brandneues heiliges Buch. Sie schlug es irgendwo auf und las ohne Ãberraschung, aber mit dem Gefühl, in ihr eigenes erschüttertes Gesicht im Spiegel zu schauen:
O Seele, die Welt ist ein tiefer, dunkler Schlund. Von allen Seiten wirft der Tod sein Netz aus .
IX
Die Beratungsstelle der Gesamtschule Winterdown war in einem Raum untergebracht, den man durch die Schulbibliothek erreichte. Er hatte kein Fenster, und nur eine einzelne Neonröhre hing an der Decke.
Tessa Wall, Leiterin der Beratungsstelle und Frau des stellvertretenden Schulleiters, betrat den Raum um halb elf, völlig übernächtigt und mit einem Becher starkem Pulverkaffee in der Hand, den sie aus dem Lehrerzimmer mitgebracht hatte. Sie war eine kleine, stämmige Frau mit einem unscheinbaren Gesicht, die ihr ergrauendes Haar selber schnitt, dabei geriet der stumpfe Pony oft ein wenig schief. Ihre Kleidung wirkte selbstgenäht, und sie mochte Schmuck aus bunten Perlen und Holz. Der Rock des Tages schien aus Jute zu sein, und dazu trug sie eine unförmige Wolljacke in Erbsgrün. Tessa betrachtete sich nur selten in bodentiefen Spiegeln und boykottierte Läden, in denen das unvermeidlich war.
Da der Beratungsraum einer Gefängniszelle glich, hatte sie versucht, ihn freundlicher zu gestalten, und einen Wandteppich aus Nepal mitgebracht, den sie noch aus ihrer Studentenzeit besaÃ: ein regenbogenfarbenes Tuch mit einer knallgelben Sonne und einem Mond, von dem stilisierte, wellenförmige Strahlen ausgingen. Die anderen Wände hatte sie mit Plakaten beklebt, die entweder hilfreiche Tipps zum Aufbau des Selbstwertgefühls gaben oder Telefonnummern von anonymen Hotlines nannten, die bei körperlichen und seelischen Problemen weiterhalfen. Die Schulleiterin hatte beim letzten Mal, als sie im Beratungsraum vorbeischaute, eine etwas sarkastische Bemerkung dazu gemacht. »Und wenn uns nichts mehr einfällt, rufen die Gören beim Sorgentelefon für Kinder an, wie?«, hatte sie gesagt und auf das Plakat gezeigt, das am meisten ins Auge sprang.
Leise stöhnend sank Tessa auf den Stuhl, nahm die Armbanduhr ab, weil sie drückte, und legte sie neben einem Stapel Kopien ab. Sie bezweifelte, dass sie heute mit den vorgegebenen Richtlinien für Beratungsgespräche Erfolg haben würde, sie hatte sogar Zweifel, dass Krystal Weedon überhaupt auftauchen würde. Krystal verschwand regelmäÃig aus der Schule, wenn sie sich aufregte oder langweilte. Manchmal wurde sie abgefangen, bevor sie das Tor erreichte, und am Schlafittchen wieder hineingeschleift, fluchend und kreischend. Gelegentlich entwischte sie jedoch und schwänzte tagelang.
Es wurde zwanzig vor elf, die Schulglocke läutete, und Tessa wartete.
Um zehn Uhr einundfünfzig stürmte Krystal herein und knallte die Tür hinter sich zu. Sie sackte vor Tessa auf dem Stuhl zusammen, verschränkte die Arme über ihrem üppigen Busen und lieà ihre billigen Ohrringe hin und her schwingen.
»Sie können Ihrem Mann sagen«, brachte sie mit zitternder Stimme hervor, »dass ich nicht gelacht hab, verdammte ScheiÃe!«
»Bitte nicht fluchen, Krystal«, bat Tessa.
»Ich hab nicht gelacht, klar?«, brüllte Krystal.
Einige Schüler waren mit Mappen unter dem Arm in die Bibliothek gekommen. Sie spähten durch die Glasscheibe in der Tür, und einer grinste, als er Krystals Hinterkopf erblickte. Tessa stand auf, lieà das Rollo vor der Scheibe herab und kehrte zu ihrem Platz unter der Sonne und dem Mond zurück.
»Also gut, Krystal. Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist?«
»Ihr Mann hat was wegen Mr Fairbrother gesagt, okay, und ich konnte nicht hören, was er gesagt hat, okay, also hat Nikki mirâs gesagt, und ich konntâs verdammt â«
»Krystal!«
»Konntâs nicht glauben, okay, und hab losgebrüllt, aber ich hab nicht gelacht! Ich hab verdammt â«
»Krystal.«
»Ich hab nicht gelacht, klar?«, schrie Krystal, die Arme jetzt fest um sich gelegt, die Beine verschlungen.
»Ist ja gut, Krystal.«
Tessa war an die Wut der Kinder gewöhnt, die sie am häufigsten in der Beratung sah. Viele von ihnen besaÃen keinerlei Arbeitsmoral; sie logen, benahmen
Weitere Kostenlose Bücher