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Ein plötzlicher Todesfall

Ein plötzlicher Todesfall

Titel: Ein plötzlicher Todesfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne K. Rowling
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einfach nur wissen, wo ihr Haus war. An den letzten Wochenenden war er schon zweimal durch die kurze Straße mit den Reihenhäusern gefahren, wobei jeder Nerv in seinem Körper kribbelte, war aber bisher nicht in der Lage gewesen, das richtige Haus zu finden. Von seinem heimlichen Beobachtungsposten hinter den dreckigen Schulbusfenstern hatte er nur gesehen, dass sie auf der rechten Seite mit den geraden Hausnummern wohnte.
    Als er um die Ecke bog, versuchte er, den richtigen Gesichtsausdruck hinzukriegen, den eines Mannes, der auf dem direktesten Weg langsam zum Fluss radelt, versunken in ernsthafte Gedanken, aber bereit, eine Klassenkameradin wahrzunehmen, sollte sie sich denn zeigen.
    Da war sie. Auf dem Bürgersteig. Andrews Beine strampelten weiter, obwohl er die Pedale nicht mehr spürte, und ihm wurde plötzlich bewusst, wie dünn die Reifen waren, auf denen er das Gleichgewicht hielt. Sie kramte in ihrer Ledertasche, das kupferrote Haar fiel locker um ihr Gesicht. Über der angelehnten Haustür hinter ihr stand die Zahl Zehn, das schwarze T-Shirt reichte ihr nicht ganz bis zur Taille, ein Streifen nackter Haut, ein schwerer Gürtel und enge Jeans … Als er fast an ihr vorbei war, schloss sie die Tür und drehte sich um. Sie warf das Haar aus ihrem schönen Gesicht zurück und sagte, ganz deutlich, mit ihrer Londoner Stimme: »Oh, hi.«
    Â»Hi«, erwiderte er. Seine Beine strampelten weiter. Zwei Meter entfernt, vier Meter, warum hatte er nicht angehalten? Schock trieb ihn weiter, er wagte nicht, sich umzuschauen, war bereits am Ende ihrer Straße. Scheiße, fall bloß nicht runter . Er bog um die Ecke, zu benommen, um beurteilen zu können, ob er eher erleichtert oder enttäuscht war, dass er sie hatte stehen lassen.
    Scheiße aber auch.
    Er fuhr zu dem Waldgebiet am Fuß des Abteihügels, wo der Fluss durch die Bäume hindurch glitzerte, konnte aber nichts erkennen, da sich Gaia wie Neon in seine Retina eingebrannt hatte. Die schmale Straße ging in einen Trampelpfad über, und die sanfte Brise vom Wasser her umschmeichelte sein Gesicht, das wohl nicht rot geworden war, glaubte er, da alles so schnell gegangen war.
    Â»Verdammte Kacke!«, sagt er laut zu der frischen Luft und dem verlassenen Pfad.
    Aufgeregt durchstöberte er diese großartige unerwartete Begegnung nach allen Details: ihr perfekter Körper, betont durch enge Jeans und ein knappes Baumwolltop. Die Nummer zehn hinter ihr, auf einer schäbigen blauen Tür. »Oh, hi«, leicht und natürlich dahingesagt. Also hatten sich seine Züge definitiv in dem Gehirn festgesetzt, das hinter diesem erstaunlichen Gesicht zu Hause war.
    Das Fahrrad holperte über frischen Kies und unebenen Boden. In Hochstimmung stieg Andrew erst ab, als er das Gleichgewicht zu verlieren drohte. Er schob das Fahrrad zwischen den Bäumen hindurch, kam am schmalen Flussufer heraus, wo er das Rad auf den Boden legte, zwischen Waldanemonen, die seit seinem letzten Besuch wie kleine weiße Sterne erblüht waren.
    Als Andrew sich das erste Mal das Rad lieh, hatte sein Vater gesagt: »Kette es an, wenn du in einen Laden gehst. Wehe, wenn es geklaut wird …«
    Aber die Kette war nicht lang genug und reichte nicht um die Bäume. Außerdem, je weiter Andrew sich von seinem Vater entfernte, desto weniger fürchtete er sich vor ihm. In Gedanken immer noch mit dem schmalen Hautstreifen und Gaias außergewöhnlichem Gesicht beschäftigt, ging Andrew zu der Stelle, an der das Ufer einen Vorsprung über das rasch fließende grüne Wasser bildete und ganz schmal am Fuß des Hügels entlanglief.
    Als sie das erste Mal hier herumgestromert waren, hatten sie nur halb so große Füße. Inzwischen musste er sich seitwärts an die Felswand gedrückt voranschieben und sich an Wurzeln und vorstehenden Gesteinsbrocken festhalten.
    Der mulchige Geruch des Flusses und der feuchten Erde war Andrew bestens vertraut, genauso wie der schmale Vorsprung unter seinen Füßen. Fats und er hatten diesen geheimen Ort gefunden, als sie elf Jahre alt waren. Sie hatten gewusst, dass das, was sie taten, verboten und gefährlich war, denn sie waren vor dem Fluss gewarnt worden. Voller Angst, aber fest entschlossen, es den anderen nicht merken zu lassen, hatten sie sich an diesem kniffligen Felssims entlanggehangelt, hatten nach allem gegrabscht, was aus der Felswand herausragte,

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