Ein plötzlicher Todesfall
würd dich gern sehen. Es ist ernst. Die sagen, sie wird vielleicht nicht wieder.«
»Auf welcher Station ist sie?«, fragte Krystal. Ihre Gedanken überschlugen sich.
»Zwölf. Pflegestation. Besuchszeit ist von zwölf bis vier, sechs bis acht.«
»Ist das �«
»Ich muss los. Ich wollt dir bloà Bescheid geben, falls du sie sehen willst. Bis dann.«
Die Verbindung war unterbrochen. Krystal nahm das Handy vom Ohr und schaute auf das Display. Sie drückte mit dem Daumen mehrfach auf eine Taste, bis sie die Worte »unbekannter Teilnehmer« fand. Ihre Tante hatte ihre Handynummer unterdrückt.
Krystal kehrte zu Nikki und Leanne zurück. Die beiden merkten sofort, dass etwas passiert war.
»Geh sie besuchen«, sagte Nikki. Sie überpüfte die Uhrzeit auf ihrem Handy. »Bis zwei kannst du da sein. Fahr mit dem Bus.«
»Ja«, sagte Krystal wie betäubt.
Sie überlegte, ihre Mutter abzuholen, sie und Robbie auch mit zu Nana Cath zu nehmen, aber vor einem Jahr hatte es einen Riesenkrach gegeben, und seither hatten ihre Mutter und Nana Cath keinen Kontakt mehr gehabt. Krystal war überzeugt, dass viel Ãberredung nötig sein würde, bis Terri bereit wäre, mit ins Krankenhaus zu kommen, und es war nicht sicher, ob Nana Cath sie überhaupt sehen wollte.
Es ist ernst. Die sagen, sie wird vielleicht nicht wieder.
»Hast du genug Bares?«, fragte Leanne. Sie wühlte in ihrer Tasche, während sie zu dritt zur Bushaltestelle gingen.
»Ja«, erwiderte Krystal, nachdem sie nachgeschaut hatte. »ân Pfund bis zum Krankenhaus, oder?«
Ihnen blieb noch Zeit, sich eine Zigarette zu teilen, bis der Siebenundzwanziger kam. Nikki und Leanne winkten ihr nach, als mache sie einen netten Ausflug. Im allerletzten Moment bekam Krystal Angst und hätte am liebsten gerufen: »Kommt mit.« Aber dann fuhr der Bus los, und Nikki und Leanne wandten sich bereits plaudernd ab.
Der Sitz war kratzig, bezogen mit irgendeinem stinkigen Material. Der Bus zuckelte die StraÃe entlang, am Polizeirevier vorbei und nach rechts in eine der DurchgangsstraÃen, die von angesagten Markenläden gesäumt war.
Angst flatterte in Krystals Bauch wie ein Fötus. Sie hatte gewusst, dass Nana Cath älter und gebrechlicher wurde, doch irgendwie hatte sie vage damit gerechnet, dass sie sich erholte und wieder so wurde wie zur besten Zeit ihres Lebens, die Haare wieder schwarz, der Rücken gerade und ihr Gedächtnis so scharf wie ihre spitze Zunge. Sie hatte nie daran gedacht, dass Nana Cath sterben könnte, hatte sie immer für robust und unverwundbar gehalten. Falls sie sich überhaupt Gedanken darüber gemacht hätte, dann hätte Krystal die Deformierung von Nana Caths Brustkorb und die unzähligen Runzeln in ihrem Gesicht als ehrenvolle Narben verstanden, erworben im Laufe ihres erfolgreichen Ãberlebenskampfs. Niemand aus Krystals Umgebung war je an Altersschwäche gestorben.
(Der Tod holte sich die Jungen in den Kreisen ihrer Mutter manchmal sogar, bevor die Gesichter und Körper ausgemergelt und verwüstet waren. Die Leiche, die Krystal mit sechs Jahren im Badezimmer gefunden hatte, war die eines gutaussehenden jungen Mannes gewesen, so weià und ebenmäÃig wie eine Statue, zumindest hatte sie ihn so in Erinnerung. Doch manchmal fand sie diese Erinnerung verwirrend und zweifelte daran. Sie wusste nie so richtig, was sie glauben sollte. Als Kind hatte sie oft etwas gehört, das später von den Erwachsenen abgestritten und geleugnet worden war. Sie hätte schwören können, dass Terri gesagt hatte: »Das war dein Dad.« Aber dann, viel später, hatte sie gesagt: »Red doch kein Blech. Dein Dad ist nicht tot, er ist in Bristol, ja?« Also hatte Krystal umdenken und sich wieder an den lebendigen Banger gewöhnen müssen, wie alle den Mann nannten, von dem sie behaupteten, er sei ihr Vater.
Aber im Hintergrund war da immer Nana Cath gewesen. Krystal waren Pflegeeltern erspart geblieben, weil Nana Cath da war, bereitstand und in Pagford auf sie wartete, ein starkes, wenn auch unbequemes Sicherheitsnetz. Fluchend und wütend war sie eingesprungen, Terri und den Sozialarbeitern gegenüber gleichermaÃen aggressiv, und hatte ihre ebenso wütende Urenkelin mit zu sich nach Hause genommen.
Krystal wusste nicht mehr, ob sie das kleine Haus in der Hope Street gemocht oder verabscheut
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