Ein Prinz wie aus dem Maerchen
verängstigtes
Kind. Und er entspannte sich. Faye atmete erleichtert auf und zog ihn
an sich. Er konnte nicht älter als fünf Jahre sein.
"Hat
der Prinz einen Namen?"
"Rafi
…"
Zu
spät dämmerte ihr, dass jeden Moment ein empörtes
Elternteil auftauchen konnte. Sie befand sich in einem fremden Land
mit einer völlig anderen Kultur, in der nach ihren Informationen
selbst kleinste Königskinder ermutigt wurden, Dienstboten zu
züchtigen. Faye wollte den Jungen wieder auf den Boden stellen,
doch er klammerte sich an sie.
Sie
spürte, dass etwas ihre Zehen berührte. Prinz Rafis Opfer
schluchzte zu ihren Füßen. Die anderen Dienstboten lagen
bäuchlings auf dem Boden, als erwarteten sie einen Bombenangriff
oder ihr Todesurteil. Sie kam sich auf einmal wie eine Außerirdische
vor, die in einem überaus gefährlichen Gebiet gelandet war.
"Müde
…" Rafi hatte den Daumen in den Mund gesteckt.
"Würde
jemand Rafi … ich meine, Seine Königliche Hoheit ins Bett
bringen?" fragte sie in der schwachen Hoffnung, jemand möge
ein wenig Englisch sprechen – schließlich musste das Kind
die Sprache von irgendjemandem gelernt haben.
"Ich
bin das Kindermädchen", wisperte die Frau zu ihren Füßen.
"Es
ist falsch und unhöflich, Menschen zu verletzen, Rafi."
Faye seufzte.
"Er
wollte mich nicht verletzen", beteuerte das Kindermädchen
furchtsam.
"Rafi
müde." Er kuschelte sich an Faye. "Die Lady bringt
mich ins Bett. Bitte", fügte er unvermittelt hinzu.
Vielleicht
stehen dann alle auf und bewegen sich wieder, überlegte Faye.
"Mein
Pferd fliegt schneller als der Wind", berichtete Rafi, als sie
ihn aus dem Raum trug.
Am
liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er sein Pferd ebenfalls
schlage. "Ich liebe Pferde."
"Ich
zeige dir mein Pferd."
Auf
dem Weg durch die Flure wurde ihr Gefolge immer größer,
denn überall schlossen sich ihnen Dienstboten an. Und mit jedem
verwunderten Blick und jeder anerkennenden Miene, die ihr begegnete,
vertiefte sich Fayes Stirnrunzeln. Ein sonderbarer Haushalt. Sie
mochte zwar einen Stiefvater aus der Hölle haben, aber es gab
nichts, womit Tariq sich bezüglich seines eigenen häuslichen
Umfelds brüsten konnte. Schlug auch er seine Diener? Der bloße
Gedanke verursachte ihr Übelkeit.
Endlich
gelangten sie in Rafis Schlafzimmer, in dem sich jedes nur
erdenkliche Spielzeug befand. Verwöhntes kleines Balg, dachte
Faye, unbeeindruckt von der süßen Unschuld des schlafenden
Kindes. Ein Erwachsener musste ihm diese Brutalität vorgelebt
haben. Ein Elternteil? Offenbar teilte Tariq den riesigen Palast mit
seiner weit verzweigten Familie. Kein Wunder, dass er darüber
gesprochen hatte, sie wie ein düsteres Geheimnis im Harem zu
verstecken! Auf gar keinen Fall würde sie in der Muraaba
bleiben!
Davon
fest überzeugt, erkundete Faye die Zimmerfluchten, bis sie auf
einen Raum stieß, dessen Wände von oben bis unten mit
Bücherregalen bedeckt waren. Es dauerte eine Weile, dann hatte
sie tatsächlich eine Karte von Jumar gefunden, auf der der
Flughafen eingezeichnet war. Ihr fiel auf, dass der Flughafen
wesentlich weiter von der Stadt entfernt war, als sie in Erinnerung
hatte, aber vermutlich handelte es sich um eine ältere Karte,
und die Stadt war inzwischen gewachsen.
Nachdem
sie den Plan in ihrer Handtasche versteckt hatte, ließ sie sich
in einem prachtvollen Empfangssalon auf einem landestypischen Diwan
nieder. Noch mehr Verbeugungen und Kniefälle – das
Personal schien völlig verschüchtert und eifrig bestrebt zu
sein, ihr Wohlwollen zu erregen. Benommen betrachtete sie ihre
atemberaubend exotische Umgebung. Fayencen mit komplizierten
geometrischen Mustern schmückten die Wände, manche der
Fliesen waren sogar mit Juwelen besetzt, und die kunstvolle
Deckenkuppel hoch über ihr war offenbar ein Mosaik aus winzigen
bunten Glassteinen. Erlesene Orientteppiche lagen auf dem hellen
Marmorboden. Der Diwan, auf dem sie saß, war mit handbemalter
Seide bespannt. Hier also war Tariq aufgewachsen. Dieses märchenhafte
Ambiente unterschied sich so grundlegend von Fayes Elternhaus, dass
es ihr den Atem verschlug.
Unvermittelt
zogen sich die Dienerinnen zurück, und gleich darauf hörte
Faye Männerschritte in der Halle.
Sekunden
später kam Tariq herein und blickte sie vorwurfsvoll an. "Latif
hat mir mitgeteilt, dass es zwischen dir und Rafi einen Vorfall
gegeben hat."
Eingedenk
der schockierenden Episode sprang Faye empört auf. "Es hat
sich also jemand über mein Verhalten beschwert,
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