Ein reines Gewissen
bewohnte ein Reihenhaus in Saughtonhall. Auf welcher Seite Alison Pettifer wohnte, wusste er nicht - keine der Gardinen hatte sich bewegt. Jedes Haus in der Straße verfügte über eine Satellitenschüssel, bei Jude lief gerade irgendeine Nachmittagskochshow. Als sie ins Zimmer kam, schaltete sie den Fernseher aus.
»Tja«, war alles, was er sagte. Ihre Augen waren vom Weinen rot gerändert. Auf ihrer linken Wange sah man einen schwachen blauen Fleck, den linken Arm, der in Gips war, trug sie in einer Schlinge. »Wieder die Treppe?«
»Ich hatte getrunken.«
»Natürlich.« Er schaute sich im Zimmer um. Es roch nach Alkohol und Zigaretten. Auf dem Boden neben dem Sofa stand eine leere Wodkaflasche. Zwei Aschenbecher, beide voll. Ein paar zusammengeknüllte Zigarettenschachteln. Eine Frühstücksbar trennte den Wohnbereich von der kleinen Küche. Aufgestapelte Teller neben leeren Fastfood-Verpackungen. Noch mehr leere Flaschen - Lager, Cider, billiger Weißwein. Der Teppich schrie nach einem Staubsauger. Den Couchtisch überzog eine Staubschicht. Eins der Beine war abgebrochen und durch vier aufeinandergestapelte Ziegelsteine ersetzt worden. Klar:Vince arbeitete auf dem Bau.
»Was dagegen, wenn ich mich setze?«, fragte Fox.
Sie wollte die Achseln zucken, doch ihr Gipsarm behinderte sie. Fox entschied sich für die Sofalehne. Seine Hände hatte er immer noch in den Manteltaschen. Obwohl der Raum nicht geheizt zu sein schien, trug seine Schwester ein kurzärmeliges T-Shirt und eine ausgebeulte Jeans. Ihre Füße waren nackt.
»Du siehst übel aus«, sagte er zu ihr.
»Danke.«
»Das ist mein Ernst.«
»Du bist auch nicht gerade der Vorzeigetyp.«
»Als ob ich das nicht selber wüsste.« Er hatte sein Taschentuch herausgezogen, um sich zu schnauzen.
»Du bist deine Erkältung ja immer noch nicht los«, bemerkte sie.
»Du bist deinen Scheißkerl immer noch nicht los«, erwiderte er. »Wo steckt er?« »Bei der Arbeit.«
»Ich wusste nicht, dass überhaupt noch gebaut wird.« »Es hat Entlassungen gegeben. Er versucht, am Ball zu bleiben.«
Fox nickte bedächtig. Jude stand nach wie vor und wiegte sich in den Hüften. Er kannte die Bewegung. Das hatte sie als Kind immer gemacht, wenn sie erwischt worden und in Erwartung einer Standpauke vor ihrem Vater auf und ab marschiert war.
»Du hast noch keinen Job?«
Sie schüttelte den Kopf. Der Makler hatte sie kurz vor Weihnachten entlassen. »Wer hat dir das erzählt?«, fragte sie schließlich. »Kam es von nebenan?«
»Ich höre so manches«, war alles, was er sagte.
»Vince hatte nichts damit zu tun«, behauptete sie.
»Wir sind doch nicht auf der Polizeiwache, Jude.«
»Er war es nicht«, beharrte sie.
»Wer dann?«
»Ich war in der Küche, am Samstag ...«
Betont auffällig spähte er über die Frühstücksbar. »Hätte nicht gedacht, dass da Platz zum Hinfallen ist.«
»Bin gestürzt und dabei mit dem Arm an der Ecke der Waschmaschine hängen geblieben ...«
»Ist das die Geschichte, die du den Leuten in der Notfallambulanz aufgetischt hast?«
»Weißt du es von denen?«
»Spielt das eine Rolle?« Er starrte auf den Kamin. Rechts und links davon standen Regale voll mit Videos und DVDs -wie ihm schien, sämtliche Episoden von Sex and the City und Friends, dazu Mamma Mia und andere Filme. Er seufzte und rieb sich mit beiden Händen kräftig das Gesicht. »Du weißt, was ich dir jetzt sagen werde.«
»Es war nicht Vince' Schuld.«
»Hast du ihn provoziert?«
»Wir provozieren uns gegenseitig, Male.«
Das wusste er; er hätte ihr erzählen können, dass die Nachbarin oft lautstarke wechselseitige Beschimpfungen hörte. Dann hätte Jude jedoch gewusst, wer ihn angerufen hatte.
»Wenn wir ihn unter Anklage stellen würden - nur ein einziges Mal -, wäre es damit vielleicht vorbei. Wir würden zur Bedingung machen, dass er eine Therapie bekäme.«
»Oh, Vince wäre begeistert!« Sie brachte ein Lächeln zustande, das sie um Jahre jünger erscheinen ließ.
»Du bist meine Schwester, Jude ...«
Sie sah ihn blinzelnd an, weinte aber nicht. »Ich weiß«, sagte sie. Dann, mit einem Blick auf ihren eingegipsten Arm: »Meinst du, ich sollte Dad trotzdem besuchen?«
»Lass es vielleicht lieber.«
»Du erzählst es ihm aber nicht?«
Er schüttelte den Kopf und schaute sich um. »Soll ich ein bisschen aufräumen? Vielleicht ein paar Teller spülen?«
»Das schaff ich schon.« »Hat er sich entschuldigt?«
Sie nickte, ohne seinem Blick auszuweichen.
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