Ein reines Gewissen
Krise einen siebenstelligen Betrag wert gewesen sein dürfte. Am Fuß der Treppe gab es einen Wartebereich, aber eine Angestellte sagte ihm, er könne gleich durchgehen.
»Sie kennen sich ja aus, Mr. Fox«, trällerte sie, worauf er nickte und sich dem längeren der beiden Korridore zuwandte. Der Anbau war etwa zehn Jahre alt. Die Wände wiesen ein paar Haarrisse auf, und manche der Doppelglasfenster waren von Kondenswasser beschlagen, die Zimmer jedoch hell und luftig - genau die Worte, mit denen man ihn bearbeitet hatte, als er sich das Haus zum ersten Mal angeschaut hatte. Hell und luftig, keine Treppen und für ein paar Glückspilze sogar ein eigenes Bad. Der Name seines Vaters stand maschinengeschrieben auf einem Pappschild, das mit Klebeband an der Tür befestigt war.
Mr. M. Fox. M für Mitchell, den Mädchennamen von Malcolms Großmutter. Mitch: Alle Welt nannte Malcolms Dad Mitch. Es war ein guter, schnörkelloser Name. Fox atmete tief durch, klopfte an und ging hinein. Sein Dad saß am Fenster, die Hände im Schoß. Er sah etwas hagerer aus, nicht ganz so munter. Er wurde nach wie vor rasiert, seine Haare wirkten frisch gewaschen. Sie waren fein und silbern und die Koteletten noch genauso lang wie früher.
»Hallo, Dad«, sagte Fox, ans Bett gelehnt. »Wie geht's?«
»Kann mich nicht beschweren.«
Fox runzelte die Stirn. Du hast dir in der Fabrik, in der du beschäftigt warst, den Rücken ruiniert; du warst jahrelang erwerbsunfähig; dann kam der Krebs, und du wurdest behandelt, unter Schmerzen, aber erfolgreich; deine Frau starb, kurz nachdem du die Entwarnung erhalten hattest; und dann kam das Alter.
Und du durftest dich nicht beschweren - weil du das Familienoberhaupt warst, der Mann im Haus.
Die Ehe deines Sohnes zerbrach nach weniger als einem Jahr; er hatte bereits ein Alkoholproblem, das sich daraufhin für eine Weile noch verschlimmerte; deine Tochter entfernte sich weit vom Nest und meldete sich nur unregelmäßig, bis sie mit einem unausstehlichen Partner wieder zu Hause landete.
Aber du kannst dich nicht beschweren.
Wenigstens riecht dein Zimmer nicht nach Pisse, und dein Sohn kommt dich besuchen, wenn er kann. Alles in allem hat der Junge es zu etwas gebracht. Du hast ihn nie gefragt, ob er seinen Beruf mag. Hast ihm nie dafür gedankt, dass er die Heimkosten für dich zahlt.
»Ich habe vergessen, dir Schokolade mitzubringen.«
»Die Mädchen holen mir welche, wenn ich sie darum bitte.«
»Auch Türkischen Honig? Gar nicht so leicht zu finden heutzutage.«
Mitch Fox nickte langsam, sagte aber nichts. »War Jude mal hier?«
»Ich glaube nicht.« Die Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wann habe ich sie zuletzt gesehen?«
»Seit Weihnachten? Da frage ich einfach mal das Personal.«
»Ich glaube, sie war hier ... War das letzte oder vorletzte Woche?«
Fox hatte unbewusst sein Handy hervorgeholt. Er tat, als schaute er in seinem Posteingang nach, wollte in Wirklichkeit jedoch die Uhrzeit wissen. Weniger als drei Minuten, seit er das Auto abgeschlossen hatte.
»Ich habe endlich den Fall zu Ende gebracht, von dem ich dir erzählt habe.« Er klappte das Handy wieder zu. »Habe mich heute Morgen mit dem Staatsanwalt getroffen - sieht aus, als käme es zur Verhandlung. Bis dahin kann allerdings noch eine Menge schiefgehen ...«
»Ist heute Sonntag?«
»Freitag, Dad.«
»Ich höre dauernd Glocken.«
»Um die Ecke ist eine Kirche - vielleicht findet eine Hochzeit statt.« Fox glaubte es selbst nicht: Er war an der Kirche vorbeigefahren, und sie hatte leer ausgesehen. Warum tue ich das?, fragte er sich. Warum belüge ich ihn?
Die Antwort: So war es am einfachsten.
»Wie geht es Mrs. Sanderson?«, fragte er, während er erneut sein Taschentuch aus der Hosentasche zog.
»Sie hat Husten. Will nicht, dass ich mich anstecke.« Mitch Fox hielt inne. »Bist du sicher, dass du hier sein solltest, mit deinen ganzen Keimen?« Dann schien ihm ein Gedanke zu kommen. »Es ist Freitag, und es ist noch hell ... Wieso bist du nicht bei der Arbeit?«
»Hab freibekommen, weil ich ein braver Junge bin.« Fox stand auf und strich im Zimmer umher. »Hast du alles, was du brauchst?« Auf dem Nachttisch sah er einen Stapel älterer Taschenbücher: Wilbur Smith; Clive Cussler; Jeffrey Archer-Bücher, die Männer angeblich mochten. Vermutlich hatte das Personal sie ausgesucht; sein Vater war nie ein großer Leser gewesen. Der Fernseher hing an einem Träger hoch oben in einer Ecke des Zimmers - was das
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