Ein Ring aus Asche
Als ich dreizehn war, bin ich in meiner Entwicklung eingefroren. Ich gehe ja nicht mal als Teenager durch. Und schlimmer noch, ich verharre seit zweihundert Jahren in diesem Zustand, als die Körpergröße noch weit unter dem heutigen Durchschnitt lag. Ich bin gerade mal einen Meter vierzig groß. Ich werde nie wie eine Frau aussehen. Und es ist mir fast unmöglich, mich wie eine zu fühlen.«
»M anon, es gibt viele Frauen, die so groß sind wie du«, meinte Sophie. »E s ist nicht so, als wärst du ein Freak.«
»O h bitte«, spottete Manon. »W ir sind alle Freaks. Aber Richard und mich hat es am härtesten getroffen und das weißt du. Ich kann es nicht leiden, wie ein Kind auszusehen. Es hat sehr lange gedauert, bis die Frauenrechte in ihrer jetzigen Form durchgesetzt waren, aber nicht mal auf die kann ich zurückgreifen. Ich kann mir weder eine Immobilie kaufen noch Wein, ja ich kann noch nicht mal ohne dich in einen Film gehen, der ab siebzehn Jahren freigegeben ist. Ich darf kein verfluchtes Auto fahren. Im Prinzip kann ich kaum irgendetwas ohne dich tun. Ich bin so von dir abhängig! Das macht mich verrückt.«
»I st es das, was…«
»D er Göttin sei Dank, dass ich dich habe«, unterbrach Manon sie und begann im Zimmer auf und ab zu laufen. »W o wäre ich, wenn ich dich nicht hätte? Kannst du dir das vorstellen? Und was, wenn du ein Mann wärst? Ich würde dich lieben und du wärst ein Mann? Man hätte dich schon längst verhaftet. Wir hätten keine Möglichkeit, zusammen zu sein. Die Leute würden denken, du seist ein Pädophiler. Das ist schrecklich. Es gibt unserer Beziehung eine verrückte, kranke Note. Jeder der uns ansieht, dich, eine erwachsene Frau, und mich, die ich so jung wirke, und wüsste, dass wir eine Beziehung haben, würde unsere Liebe für ein schreckliches, unnatürliches Verbrechen halten. Das ertrage ich nicht! Nicht mehr.«
»E s gibt Leute, die würden uns sogar dann noch für pervers und widernatürlich halten, wenn sie wüssten, dass wir beide weit über einundzwanzig sind«, sagte Sophie.
Manon schüttelte den Kopf. »J etzt tue ich es schon wieder«, sagte sie. »W ie oft haben wir diese Diskussion schon geführt? Ich schimpfe über die immer gleichen Dinge und du gibst jedes Mal dieselben beschwichtigenden Antworten. Aber verstehst du denn nicht? Wir werden dieses Gespräch immer wieder führen und ich werde dieses Problem bis zum Rest meines Lebens mit mir herumschleppen. Gott, Sophie, das ist einfach zu lang. Unerträglich lang.« Sie hielt sich ihre Dose mit Mineralwasser an die Stirn und versuchte, nicht zu weinen. Weinen war sinnlos. Sie hatte mehr als zwei Jahrhunderte lange geweint, ohne dass es sie weitergebracht hätte. Nur eine Sache würde Abhilfe schaffen.
Sophie rückte näher und legte ihre Arme auf Manons Schultern. »I ch weiß, dass du leidest. Ich sehe es. Ich sehe, womit du lebst und was du durchmachst. Aber ich hänge genauso von dir ab wie du von mir. Ohne dich wäre ich genauso verloren. Kann ich nicht… Mache ich denn nicht… Bist du mit mir nicht glücklich genug, als dass es sich lohnen würde, zu bleiben? Ich versuche wirklich, dich glücklich zu machen. Ich will, dass du so unfassbar glücklich mit mir bist, dass nichts von alledem mehr etwas bedeutet.«
Manon hörte die Tränen in Sophies Stimme. »D u weißt doch, dass ich das bin«, sagte sie ruhig. »N iemand sonst könnte mich glücklicher machen. Aber wie kann ich Teil eines glücklichen Paares sein, wenn mein eigenes Leben ein solcher Albtraum ist? Das denke ich zunehmend, die ganze Zeit eigentlich. Was soll es dir, uns bringen, wenn ich mich so fühle? Noch mal zehn Jahre und ich bin reif für die Klapsmühle. Und dann sitzt du mit mir fest, mit dieser verbitterten, übergeschnappten, verzweifelt unglücklichen Kindfrau. Wie solltest du das ertragen? Und wie sollte ich es ertragen, dir so etwas anzutun?«
Sophie ließ ihren Tränen nun freien Lauf. »S ag doch so was nicht«, weinte sie. »W ie kannst du so etwas sagen? Ich würde dich immer lieben, egal was kommt! Für mich siehst du wie eine Frau aus. Wie die einzige Frau, die ich je begehren könnte. Aber du willst mir den Rücken kehren, mich für immer alleinlassen!«
Manon schlang ihre Arme um Sophie, fühlte ihr Schluchzen. Sie legte ihren Kopf auf Sophies Schulter, hielt sie fest umklammert, wiegte sie sanft hin und her und strich ihr über das lange braune Haar. »F ür immer ist eine lange Zeit, um allein zu sein«,
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