Ein Ring aus Asche
Haar. Es war Nan, eine sehr viel jüngere Nan, die ein Kleinkind auf dem Arm hielt. Ihre Lippen waren fest zusammengepresst, sie wirkte besorgt.
Plötzlich trat ein Mann aus dem Haus, der einen Koffer aus Teppichstoff trug. Es war derselbe Mann, den wir in unserer Vision mit Nan streiten gesehen hatten. Er war groß, schwarzhaarig und sah gut aus. Er hatte mein Muttermal auf der Wange, doch seine Haut war so gebräunt, dass man es kaum erkennen konnte. Er sagte etwas zu Nan, sie antwortete mit einer wegwerfenden Geste, ohne ihn anzusehen. Er stieß den Atem aus und entfernte sich kopfschüttelnd. Ganz in der Nähe war ein Pferd angebunden. Er stieg auf und ritt von dannen, bis er nicht mehr zu sehen war.
Die Szenerie änderte sich abrupt. Im nächsten Bild war Nan sehr viel älter, so wie jetzt ungefähr. Sie befand sich in einem kleinen Zimmer, neben einem schmalen Bett. Ihre Stirn war feucht von Schweiß und sie sah müde aus. Ein Mädchen, Sophie, trat auf sie zu und überreichte ihr eine Schüssel mit dampfendem Wasser und ein Handtuch. Eine junge Frau lag auf dem Bett. Nicht die, die in der Regennacht gestorben war. Eine andere. Sie hatte braune Haare, braune Augen und unser Muttermal. Dennoch wirkte sie wie eine jüngere Version von Nan.
Sie lag in den Wehen und Nan stand ihr zur Seite. Als das Baby auf die Welt kam, hob sie es hoch und durchtrennte die Nabelschnur. Sophie lächelte glücklich und wickelte das Kind in ein weißes Tuch. Alarmiert beugte sich Nan über die junge Frau in dem Bett und griff nach ihrer Hand. Das Gesicht des Mädchens sah zufrieden und entspannt aus, ihre Augen blickten starr an die Decke. Sie war tot. Ich spürte Nans Kummer, ihre Wut, das unbändige Gefühl der Verzweiflung. In einer anderen Szene sah ich, wie sie den Totenschein ausfüllte. Der Name des Mädchens war Béatrice Rousseau gewesen. Das Jahr 1818.
Auch das Baby trug unser Muttermal. Es war über Generationen in der Familie weitergegeben worden, als wären wir vom Tode gebrandmarkt, bevor wir überhaupt gelebt hatten.
Ich wollte nichts mehr sehen und merkte, wie sich mein Verstand sperrte. Halb nahm ich wahr, dass ich wieder auf dem Boden des Arbeitszimmers saß, als Nan ihre warmen Hände vorsichtig aus meinen zog. Sie entfernte sich leise und überließ mich mir selbst. Offensichtlich wollte sie, dass ich weiterübte.
Ich wusste nicht, was ich noch ausspähen sollte. Ich wollte nichts mehr von der Vergangenheit sehen, nicht mehr beobachten müssen, dass Generationen vor mir wie beim Domino während der Geburt starben. Wie meine Mutter. Mit einem Mal wurde mir klar, dass ich selbst ebenso enden würde, wenn ich ein Kind bekam. Ich würde sterben. Ich hatte mir nie über Kinder Gedanken gemacht, ja ich wusste noch nicht mal, ob ich welche wollte. Wenn Luc und ich auf irgendeine Weise hätten zusammenbleiben können, hätte ich mir dann ein Kind von ihm gewünscht? Sehnsucht und Leere breiteten sich in mir aus, als ich darüber nachdachte.
Ich schüttelte den Kopf. Das hier war kein Ausspähen. Ich konzentrierte mich nicht. Über all das konnte ich später immer noch nachdenken.
Luc. Gott, Luc. Würde ich ihn jemals nicht vermissen? Ihn nicht begehren?
Plötzlich stand er direkt vor mir. Ohne es zu wollen, hatte ich ihn in der Flamme entdeckt. Meine Sehnsucht hatte mir diese Tür geöffnet. Und jetzt, da ich vor ihr stand, schloss ich sie nicht. Ich hatte ihn seit Tagen nicht gesehen. Meine Augen weideten sich an ihm, als wollte ich ihn allein mit meinen Blicken verschlingen.
Luc befand sich an einem dunklen, sumpfigen, waldigen Ort. Er kniete auf dem Boden und im Kreis um ihn herum lagen Kristalle und einzelne Brocken Steinsalz. Vor ihm stand eine breite, flache Schüssel mit Wasser. Er praktizierte Magie.
Er blinzelte, hob den Kopf und blickte mir direkt in die Augen.
Erschrocken sog ich den Atem ein und zwinkerte mich aus meiner Vision heraus. Ich löschte die Kerze, schluckte und öffnete schnell den Kreis. Mein Herz klopfte. Ich schämte mich, dass ich Luc ausspioniert hatte, während gleichzeitig alles in mir jubilierte, weil ich ihn wiedergesehen hatte, nur für einen kurzen Moment.
Ich räumte unsere Hilfsmittel beiseite und kehrte den Kreis zusammen. Ich hörte Nan in der Küche hantieren und hoffte, dass sie nicht dabei war, sauber zu machen, denn dann hätte ich mich noch schlechter gefühlt. Obwohl ich natürlich sehr froh gewesen wäre, weniger zu tun zu haben.
Ich hatte gesehen, wie Luc seine
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