Ein Sarg für zwei
Februar war. Da die Schule im
Sommer umgebaut werden sollte, war das Treffen dieses Jahr vorverlegt worden,
da es ansonsten hätte ausfallen müssen. Vermutlich war das zusätzlich der
Grund, warum nicht so viele Ehemalige da waren. Es war allgemein bekannt, dass
Abottsville im Winter geradezu im Schnee versank, und die Gefahr, darin stecken
zu bleiben, dürfte etliche Leute von einem Besuch abgehalten haben.
Schließlich
trennten sich Claire und Reggie von uns, um mit anderen Leuten zu plaudern,
versprachen aber, später wiederzukommen. An der Seite von Thierry wartete ich
darauf, von einer riesigen Nostalgiewelle überschwemmt zu werden, die das
Treffen zu einem fantastischen Abend machen und mir helfen würde, mich besser
zu fühlen. Eine Stunde später wartete ich immer noch.
George legte
eine kurze Tanzpause ein und kam zu uns. Auf seinem Schild prangte der Name
»Jim-Bob«.
»Jeder
erinnert sich an mich. Offensichtlich war ich ziemlich beliebt.«
»Das warst
du eindeutig.«
Ich
erinnerte mich an den echten Jim-Bob. Er war tatsächlich ziemlich
beliebt gewesen. Seltsamerweise ähnelte George ihm absolut nicht. Jim-Bob war
klein, dick und ein extremer Frauenheld gewesen - und ganz eindeutig kein Vampir. Ich hätte schwören können, dass ich letzte Woche in der Zeitung gelesen
hatte, dass der echte Jim-Bob in vier Fällen von Internetbetrug vor Gericht
gestellt worden war. Vermutlich stand sein Namensschild deshalb heute Abend zur
Verfügung.
»Ich
verschwinde mal kurz auf die Damentoilette«, erklärte ich Thierry. »Zu viel
Bowle.«
Er nickte,
beugte sich vor und gab mir einen zärtlichen Kuss. »Ich warte hier auf dich.«
Seine
Einsilbigkeit heute Abend sagte mir, dass er sich nicht sonderlich wohl fühlte.
Ich beschloss, ihn nicht noch länger zu quälen.
Als ich die
Turnhalle in Richtung Waschräume verließ, sprachen mich fünf Leute an, die ich
jedoch erst nach einem kurzen Blick auf ihre Namensschilder erkannte. Es war
schon erstaunlich, wie sehr Menschen sich in zehn Jahren verändern konnten.
Auf der
Damentoilette verschwand ich in der Kabine, die der Tür am nächsten lag, so
dass ich nicht an den Spiegeln vorbeigehen musste. Kein Spiegelbild zu haben,
warf manchmal Fragen auf, denen ich lieber ausweichen wollte. Zum Beispiel
Fragen wie: »Wieso hast du denn kein Spiegelbild?« Das war die häufigste Frage.
Und meistens flippte die Person, die sie gestellt hatte, als Nächstes total
aus.
Als ich die
Kabine wieder verließ, bemerkte ich die blonde Frau, die an der gegenüberliegenden
Wand lehnte. Offenbar hatte ich ihre Lieblingskabine besetzt, denn es waren
noch zahlreiche andere frei. Aber sie rührte sich nicht, als ich hinaustrat.
»Sarah«,
sagte sie stattdessen. »Wie schön, dich zu sehen.«
Ich erkannte
sie nicht. Mist. Ich suchte nach einem Namensschild und bemerkte, dass sie gar
keins trug. »He, du«, erwiderte ich lahm. »Wie geht’s?«
Sie trug ein
enganliegendes blaues Kleid, das einen Playboy-Bunny-Körper notdürftig
verhüllte. Ihre Brüste waren garantiert künstlich, und ihre Haare waren so
hellblond wie die von Barbie. Sie war ganz hübsch, aber irgendwie auf eine
unnatürliche Art.
»Mir geht es
fantastisch«, erwiderte sie, dann zögerte sie. »Du erinnerst dich nicht mehr an
mich, oder?«
»Doch,
klar«, log ich. Ich fühlte mich mies, weil ich jemanden nicht erkannte, der
seinerseits ganz offensichtlich genau wusste, wer ich war. »Das ist doch
albern. Wie hätte ich dich vergessen können?«
Sie
lächelte. »Okay. Wie heiße ich?«
Ich lachte,
aber es klang ziemlich gezwungen. »Wieso, hast du deinen Namen etwa vergessen?«
Ihr Lächeln
verhungerte vor ihren stark geschminkten Augen. »Nein, das nicht. Aber offenbar
bin ich die Einzige hier, die sich daran erinnert. Andererseits ist das
eigentlich ganz okay. Früher in der Schule habe ich völlig anders ausgesehen.
Zehn Jahre können einen Menschen sehr verändern.«
»Nur mich
nicht«, erklärte ich. »Bis auf ein paar Dinge in meinem Leben fühle ich mich,
als hätte ich mich kein Stück verändert.«
»Und,
findest du das gut?«
»Es kommt
wohl darauf an, was man vom Leben erwartet. Ich habe recht gerne eine
Verbindung zu meiner Vergangenheit. Das erdet mich irgendwie.«
Und machte
mich glücklich. Und halbwegs normal.
Sie nickte.
»Ich bin Stacy. Stacy McGraw. Erinnerst du dich jetzt?«
Ich nickte
automatisch, nur erinnerte ich mich nicht an sie. Nicht im Geringsten.
»Natürlich. Freut mich, dich
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