Ein schicksalhafter Sommer
seine Frau die neu erworbenen feinen Manieren verinnerlicht hatte. Die Tür zu ihrer gemeinsamen Wohnung in der elterlichen Villa wurde aufgestoßen, und Sofia stürmte herein. „Georg, jetzt ist alles zu spät! Was sollen wir nur tun?“, rief sie, wobei sie es in Dramatik und Lautstärke mit ihrer Mutter aufnehmen konnte. Georg stand aus seinem Ledersessel auf und schloss die Tür. Seine Eltern mussten ja nicht mitbekommen, dass seine Frau hin und wieder einen Rückfall bekam. Sie zürnten ihm sowieso wegen der Sache, die sich mit seinem Schwiegervater im Laden abgespielt hatte. Außerdem waren sie gewahr geworden, dass er wohl auch im Ochsen am Abend zuvor so ein Theater gemacht hatte. Wenn Sofia jetzt auch noch anfing, würden seine Eltern ihm die Hölle heiß machen. „Sofia, bitte beruhige dich. Was ist denn in dich gefahren?“
„Ach, Georg, es ist nur so furchtbar.“
„Was ist denn passiert? Was hat dein Vater getan?“ Er hatte Hermann eigentlich nicht als gewalttätig eingeschätzt, aber man wusste ja nie. „Hat er den Hof kurz und klein geschlagen?“ Ein großer Verlust wäre es nicht.
„Ach was. Mit Papa war alles in Ordnung.“ Sofia ließ sich erschöpft in den anderen Sessel fallen. „Das ich nicht eher darauf gekommen bin. Als ich von Kalter erzählt hab, da war so ein Stimmengewirr am Tisch! Nur Katrin war verdächtig still.“
Georg konnte dem Gespräch zwar nicht folgen, aber das mit dem Stimmengewirr, das konnte er sich nur zu gut vorstellen. Jede Unterhaltung endete bei den Nessels in einer mittelgroßen Schlacht und wieder einmal dankte Georg dem Herrn, dass die Familie seiner Frau so weit weg von sämtlichen Nachbarn wohnte. „Sofia, jetzt reiß dich aber mal zusammen. Was soll denn dieses Geschwafel? Entweder du erzählst jetzt mit Sinn und Verstand oder du hältst den Mund. Ich bin dir, wenn ich ehrlich sein soll, immer noch nicht ganz wohlgesonnen, weil du dich mir widersetzt hast. Und siehe da. Mit Recht hatte ich Vorbehalte gegen dein Vorhaben, deine Eltern zu besuchen. Diese Familienzusammenkünfte scheinen dir nicht zuträglich zu sein. Du bist ja ganz konfus.“
„Nun gut. Auf den Punkt gebracht, lässt es sich so sagen: Ich bin mir todsicher, dass der gemeingefährliche Knecht meiner Schwester den Kopf verdreht hat.“ Niedergeschmettert sah sie ihren Mann an.
„Ich verstehe nicht ganz.“
„Der Knecht hat was mit der Katrin, um Himmels Willen“, rief seine Frau aufgebracht.
Einen Moment sah Georg sie nur an. Dann brach er in Gelächter aus.
„Schön, dass du dich darüber amüsieren kannst, ich kann da nichts Lustiges dran finden. Das wird ein schlimmes Ende nehmen.“
„Mein Gott, was kommt als nächstes?“ Georg erholte sich langsam von seinem Heiterkeitsausbruch. „Entschuldige, meine Liebe. Ich lache aus purer Verzweiflung. Am besten holst du schon mal die Narrenkappen aus der Karnevalskiste auf dem Speicher. Die ziehen wir dann demnächst auf, wenn wir durch das Dorf spazieren. Dann passt es wenigstens, wenn die Leute mit dem Finger auf uns zeigen und lachen. Denn lachen werden sie, oh ja.“
Aufgebracht lief Georg im Zimmer auf und ab. „Deine Sippschaft lässt wirklich kein Fettnäpfchen aus, um uns in Verlegenheit zu bringen. Alle paar Tage fällt einem von ihnen etwas Neues ein, um uns alle ins Gespräch zu bringen. Ich sehe uns schon alle bei der Trauung deiner Schwester gemeinsam in der Kirchenbank sitzen. In vorderster Reihe, dass uns alle sehen können.
Die Kirche wird natürlich gerammelt voll sein, denn so etwas bekommt man nicht alle Tage geboten. Deine Mutter, die lauthals tönt, wie hübsch ihre plumpe Bauerntochter doch als Braut in dem selbstgeschneiderten Hochzeitskleid ist, der Penner, der ihr angetraut wird, die keifende Großmutter, die deine Mutter gemahnt, den Mund zu halten, der nörgelnde, krakeelende Vater, der ungezogene Sohn, alle in geflickten Kleidern, und natürlich wir zwei.
Ich frag mich, ob auch ein Foto von der Hochzeitsgesellschaft gemacht werden wird. Das werde ich mir dann einrahmen und auf mein Nachtschränkchen stellen, als ständige Mahnung daran, nicht immer nur auf sein Herz, sondern lieber auf die Stimme der Vernunft zu hören.“ Georg steigerte sich immer mehr in sein Unglück hinein. Und was seine Eltern ihm dann wieder für Vorhaltungen machen würden, da mochte er gar nicht dran denken. „Weißt du noch, Sofia, als wir im Tierpark waren, vor einiger Zeit? Wie wir an den Käfigen vorbeigegangen sind
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