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Ein sicheres Haus

Titel: Ein sicheres Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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heimwehkranker Körper erinnerte sich an ihn: die Art, wie er mit einer Hand meinen Hinterkopf umfaßte, seine rauhen Finger an meinen Brustwarzen, sein im Bett an meinen geschmiegten Körper. Manchmal nahm ich Elsie hoch und umarmte sie, bis sie aufschrie und sich zappelnd losriß. Meine Liebe zu ihr erschien plötzlich zu groß und eigennützig.
    Zu oft nahm ich den Brief heraus, den er seiner Schwester geschrieben hatte. Ich las ihn nicht, sondern starrte auf die kühne schwarze Schrift und ließ einzelne Sätze scharf hervortreten. Ich hatte nur ein paar Fotos von ihm; er war immer derjenige hinter der Kamera gewesen, wie die meisten Männer.
    Ein Bild gab es von uns beiden in Shorts und T-Shirts. Ich schaute in die Kamera, und er sah mich an. Ich konnte mich nicht erinnern, wer es aufgenommen hatte. Dann gab es noch eins von ihm, wie er auf dem Rücken lag und Elsie auf seinen ausgestreckten Beinen balancierte. Sein Gesicht im Sonnenschein war unscharf, ausgebleicht und verschwommen, wo die Augen hätten sein sollen, aber Elsies Mund war aufgesperrt vor Angst und Wonne. Meist war Danny von der Kamera abgewandt, verborgen. Ich wünschte mir ein Foto von ihm, auf dem er mich direkt ansah, so etwas wie die Hochglanzfotos von Filmstars, denn ich hatte schreckliche Angst zu vergessen, wie er aussah. Nur in meinen Träumen sah ich sein Gesicht richtig.
    »Ja«, antwortete ich Sarah und nahm ein Sandwich, aus dem Tomatenscheiben herausfielen, als ich hineinbeißen wollte, »ja, er fehlt mir.«
    Ich kaute ein wenig und fügte dann hinzu: »Die Erinnerung verzerrt ihn. Ich weiß nicht, wie ich die Perspektive zurechtrücken soll. Wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Was ist mit ihr?«
    »Mit Finn, meinst du? Gott, das ist kompliziert. Zuerst hätte ich fast angefangen, sie zu lieben; sie war ein Teil der Familie, verstehst du. Dann habe ich sie gehaßt; ich war fast krank vor Haß und Demütigung. Und dann ist sie gestorben, und es ist, als hätte das all meine Gefühle ausgelöscht. Ich weiß nicht, was ich für sie empfinde. Ich schwimme.« Bei dieser Redewendung fröstelte mich, erinnerte ich mich wieder an das dunkle Wasser.
    Ich sah Michael Daley auf dem auseinanderbrechenden Boot stehen, und in Zeitlupe sah ich noch einmal, wie ihn die Metallstange traf, der Baum gegen ihn prallte und sein langer Körper sich zusammenkrümmte.
    »Die Polizei sagt ständig, wie froh sie sei, daß alles aufgeklärt ist, und um lose Enden sollte ich mich nicht kümmern, die würden sie Stückchen für Stückchen zusammenfügen, aber das stört mich irgendwie. Nein, das Wort trifft’s nicht ganz. Ich kriege es im Kopf nicht richtig zusammen. Ich meine, es gibt Dinge, da begreife ich nicht, wie es möglich war, daß …« Ich hielt abrupt inne. »Laß uns eine Partie Schach spielen. Ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr gespielt.«
    Ich legte das Schachbrett auf den Tisch und öffnete den Deckel der dunklen Holzschachtel, nahm zwei Bauern mit glatten Köpfen heraus. Ich streckte die Fäuste vor, und Sarah tippte auf meine linke Hand.
    »Weiß«, sagte ich, und wir bauten die Figuren auf. Da standen sie sich in entschlossenen Reihen gegenüber, das Holz glänzte im Sonnenlicht; draußen zwitscherte ein Vogel. Es war nicht das einsame Geschrei der Seevögel, bei dem ich eine Gänsehaut bekam, sondern das heimelige, banale Zwitschern eines englischen Gartenvogels auf einem kleinen Baum, dessen Blätter sich gerade entfalteten.

    Später, nachdem Sarah nach London aufgebrochen war und ich Elsie abgeholt und Linda übergeben hatte, fuhr ich zum Supermarkt. Ich war erst ein paar Tage vorher dort gewesen, und Vorratsschränke und Tiefkühlfach zu Hause waren voll mit Fertiggerichten. Aber es beruhigte mich, den Einkaufswagen durch die vertrauten Gänge zu schieben und die soliden, beruhigenden Gegenstände herauszunehmen, die immer am richtigen Platz standen. Ich verglich gern die Preise von gebackenen Bohnen mit Süßstoff, Waschpulver, Erdnußbutter.
    Ich stand gerade vor einer Tiefkühltruhe voller Süßspeisen –
    sollte ich noch einen Pecankuchen oder eine Zitronenmeringue kaufen? –, als ich hinter mir eine Stimme hörte.
    »Sam?«
    Ich nahm beides und drehte mich um.
    »Oh, hallo, äh …« Wieder hatte ich ihren Namen vergessen, genau wie bei unserer letzten Begegnung. Kurz und schmerzhaft stieg die Erinnerung an meine und Finns Einkaufsexpedition in mir auf. Das war der Tag, an dem ich geglaubt hatte, das Tauwetter hätte begonnen.

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