Ein sinnlicher Schuft
ihr klar wurde, dass es keine Mama mehr gab und Evan nicht mehr so klein war. Dieser kurze Moment der Rückkehr in die Vergangenheit war jedoch so tröstlich gewesen, so schmerzlich süß, dass Pru die Augen noch einmal ganz fest schloss, um nicht in die Wirklichkeit zurückkehren zu müssen. Als sie dann endgültig erwachte, ballte sie die Hände zu Fäusten.
Sie schaute sich in dem Raum um. Es war ein sehr schönes Zimmer, verglichen mit denen, die sie inzwischen bewohnt hatte, allerdings recht unpersönlich. Vermutlich ein Gasthaus. Wie sie hierhergekommen war, das wusste sie nicht.
Sie erinnerte sich daran, Mr Lamberts Angebot, ihn und das Kind zu begleiten, angenommen zu haben, und daran, wie stark der Einspänner holperte und wie sein Körper sich unter ihrer Hand angefühlt hatte. Auch noch an ihre Erschöpfung und die Übelkeit, bedingt durch Hunger und das endlose Schaukeln des Wagens. Der Rest versank mehr oder weniger in einem grauen Nebel, der nur von sporadisch aufflackernden Bildern durchbrochen wurde. Evans sorgenvolles kleines Gesicht. Mr Lambert, der jemandem Befehle erteilte. Ihr Vater, der ihr schluckweise Brühe einflößte, wie er es schon in ihrer Kindheit getan hatte…
Nun, das musste ein Traum gewesen sein. Zumindest was ihren Vater betraf. Die Geschichte mit der Brühe jedoch schien zu stimmen, denn auf dem Tisch neben ihrem Bett stand noch die halb leere Schale.
Warme Arme, die sie umfingen. Eine breite Brust, an die sie sich lehnte. Mr Lamberts Stimme, die plötzlich so zärtlich klang. »Pru. Nur noch einen Schluck. Für mich.«
Eine Berührung wie eine zarte Liebkosung am Ansatz ihrer Brüste. Hm. Diesen Gedanken sollte sie lieber nicht vertiefen.
Was sie auch nicht tat, denn in diesem Moment wehten verlockende Düfte in ihr Zimmer. Pru schnupperte: Würstchen, Rührei und frisches Brot. Mit einer raschen Bewegung rollte sie sich auf den Rücken und setzte sich auf. Frühstück!
Wunderbar. Einmal richtig ausschlafen und jetzt auch noch etwas Gutes zu essen zu bekommen. Seit einer Ewigkeit hatte sie sich nicht mehr so wohlgefühlt.
Colin stieg zögernd die Treppe des Gasthauses hinunter. Er war zerschlagen wie seit den wilden Zechgelagen seiner Jugend nicht mehr. Seine Augen brannten, der Rücken schmerzte, denn ihm war nur die harte Bettkante geblieben, und es würde ihn wundern, wenn er nicht von Melodys Attacken überall blaue Flecken davongetragen hätte. Außerdem musste er die halbe Nacht damit zubringen, mit Evan um ein Stück von der Decke zu kämpfen, wobei er wider Erwarten den Kürzeren gezogen hatte. Und das bisschen Schlaf, das er abbekam, wurde unterbrochen durch unruhige Träume, in denen er Chantal sah. Allerdings mit rotbraunen Haaren. Die Morgensonne, die durch die Fenster schien, war zu grell und das Klappern des Geschirrs im Schankraum zu laut. Und Miss Filby, die dort bereits beim Frühstück saß, war ein Problem für sich.
Eines wusste er jedoch mit absoluter Sicherheit. Er musste so schnell wie möglich weiter, um noch vor ihrer Verheiratung mit Chantal zu reden, denn Melodys Zukunft stand auf dem Spiel. Er würde nicht zulassen, dass sie ihr Leben als Bastard verbrachte, denn es stand schließlich in seiner Macht, alles in Ordnung zu bringen.
Wenn er an Chantal dachte, packte ihn das schlechte Gewissen. Sie musste so verzweifelt gewesen sein.
Die Mutter hat kein Geld mehr geschickt.
Wahrscheinlich hatte sie bis zum Umfallen gearbeitet, um sein Kind zu ernähren. Der verrückte Entschluss, diesen Bertie zu heiraten, war vielleicht nur der letzte Versuch, genug Mittel in die Hand zu bekommen, um das Kind wieder zu sich zu nehmen.
Nein, die verwirrende Miss Filby und ihr Bruder waren nicht sein Problem– schließlich hatte er auch ohne sie bereits mehr als genug davon.
Sechstes Kapitel
A ls Mr Lambert in den Schankraum kam, bediente sich Pru gerade von einem dampfenden Berg Rührei und gebuttertem Toast. Sie genoss jeden köstlichen Bissen und würde am liebsten noch ewig weiteressen.
Satt zu werden und nicht zu frieren. Einfach himmlisch.
Evan hatte sein Frühstück längst heruntergeschlungen und war dann wie der Blitz in die Stallungen gerannt. Sie konnte Melody im letzten Moment daran hindern, dem Jungen zu folgen. Jetzt saß sie mit ihrer kleinen Lumpenpuppe in der Nähe des offenen Feuers und fütterte mit einem Löffel ihr »Baby«.
Colin ging hinüber zu Pru. Er trug einen grünen Gehrock und ein frisches, perfekt gebundenes Halstuch. Seine
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