Ein sinnlicher Schuft
Fuß auf ihren Po, um zu verhindern, dass sie nach unten durchrutschte. Melody fand das ausgesprochen lustig.
Dann gönnte sie ihm eine Ruhepause, und er dachte wieder darüber nach, was er am Ende dieser Reise finden würde.
Chantal.
»Guck mal, Onkel Colin.«
Er schaute zur Seite, nach unten, nach hinten, doch sie war nirgendwo zu sehen. Nicht auf dem Sitz, nicht auf dem Boden, nicht auf dem zusammengefalteten Dach. »Melody?« Entsetzt richtete er sich auf, um das Pferd abrupt zum Stehen zu bringen, nur waren Kutschen leider nicht für solche Manöver gebaut, nicht einmal leichte Einspänner. Und so kam, was kommen musste: Als das Gewicht des Wagens noch nach vorn drückte, während das Pferd bereits stand, brach die Deichsel, und Hector machte einen erschrockenen Satz.
»Melody!«
Endlich blieb die Kutsche mit einem letzten, gewaltigen Ruck stehen, und das Kind flog in Colins ausgestreckte Arme. Er ließ die Leinen los und drückte sie fest an sich.
»Ich kann fliegen.«
Colin schaute sich um. Melody musste wohl irgendwie nach hinten gelangt sein, wo das Gepäck stand, und war durch die Fliehkraft nach vorn geschleudert worden. Was, wenn er sie nicht aufgefangen hätte und sie zwischen die Hufe des nervösen Pferdes gefallen wäre? Bei dem bloßen Gedanken daran krampfte sich sein Magen zusammen. Er schloss die Augen und drückte sie noch fester an sich, atmete tief durch. »Hör auf, Mellie. Bitte, hör einfach auf, immer herumzuturnen.«
Sie schaute ihn mit ihren großen blauen Augen unschuldig an. »Du hast angehalten, Onkel Colin.«
Ja, das hatte er, und der Schaden war unübersehbar. Das Geschirr war hin, und weil er sich darin verfangen hatte, rollte Hector panisch mit den Augen. Selbst wenn es Colin gelingen sollte, ihn mit den verbliebenen Lederriemen irgendwie wieder einzuspannen, würde sich der Einspänner mit der gebrochenen Deichsel nicht mehr ziehen lassen.
Melody reckte neugierig den Hals, um sich alles anzusehen. »Du hast’s versaut, Onkel Colin.«
Colin seufzte. »In der Tat, das habe ich wohl.« Er war im Moment zu erschöpft, um ihre Ausdrucksweise zu korrigieren.
Sie hielt ihre Lumpenpuppe vor sein Gesicht. »Gordy Anne sagt: ›Teufel noch mal!‹, Onkel Colin.«
»Aha!« Gordy Anns Kopf kippte zur Seite. Sie sah tatsächlich bestürzt aus. Oder tot. Colin schloss für einen kurzen Moment die Augen. »Natürlich sagt sie das.«
Nachdem sie alles zu ihrer Zufriedenheit kommentiert hatte, stopfte sich Melody das schmutzige Bündel unter den Arm und rutschte auf seinem Schoß herum, bis sie eine bequemere Stellung gefunden hatte. »Können wir jetzt zurück in unsere Wohnung im Brown’s, Onkel Colin?«
Himmel! An die Rückkehr nach London durfte er gar nicht denken. Wenn Melody dieses ganze Chaos Aidan und Madeleine erzählte– und das würde sie, da war er sich sicher, mit großer Begeisterung tun–, dann musste er sich ein sehr tiefes Loch suchen, um sich darin zu verstecken.
»Äh, Mäuschen?« Er konnte sie natürlich nicht bitten zu lügen. Das war undenkbar. Aber vielleicht bestechen? Colin war so verzweifelt, dass er fast zu allem bereit war.
»Es ist gesunken«, sagte Melody gedankenverloren und betrachtete die vornübergekippte Kutsche.
Sie deutete mit einem pummeligen Finger darauf. »Wie das Schiff von den bösen Piraten.«
Colin warf einen traurigen Blick auf die Überreste des vermutlich unwiederbringlich zerstörten Prachtstücks. Es sah dem Bug eines Schiffes gar nicht einmal so unähnlich.
»Ja, Mellie. Wenn wir wieder im Brown’s sind, kannst du Onkel Aidan und Tante Maddie erzählen, wie unser Schiff gesunken ist.«
Sie kuschelte sich enger an ihn und machte sich auf eine Geschichte gefasst. »Und Wibblyforce?«
Gott der Allmächtige, der korrekte Majordomus! Dessen Reaktion auf diese Geschichten mochte er sich gar nicht ausmalen. Colin lächelte gequält. »Ja, auch Wilberforce.«
Im eleganten, wenngleich ein wenig altmodischen Foyer von Brown’s Gentlemen Club betrachtete Wilberforce soeben angelegentlich das Tablett mit den Briefen, das er in seiner Hand hielt.
Ein höchst interessantes Schreiben war dabei. Ein Umschlag, der scheinbar durch viele Hände gegangen war und auf dem in einer ausladenden Handschrift zu lesen stand: Sir Colin Lambert, Brown’s Gentlemen Club, St. James Street, London. Das Papier war fleckig und verkrumpelt und wies Wasserflecken auf, aber trotzdem ließ sich der Absender durch ein einzelnes verschlungenes R
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