Ein skandaloeser Kuss
Fähigkeit erworben hatte, weil er sonst sicher bei dem Schiffbruch ertrunken wäre.
„Hat er aber. In den Sommerferien, da muss er ungefähr zehn gewesen sein. Er wusste, dass seine Mutter dagegen war, dass er es lernte, also erzählte er niemandem von seinen Plänen. Und dann komme ich eines Tages in die Nähe des Teichs und höre dieses Platschen. Komisches Geräusch, denke ich und gehe nachsehen, ob es eine verletzte Ente ist oder so was, die da herumschwimmt.“
Bei der Erinnerung lachte der Wildhüter leise in sich hinein. „Stattdessen ist es der Viscount, der spritzend und paddelnd versucht, über Wasser zu bleiben, und er befindet sich genau in der Mitte des Tümpels.“ Billings schüttelte den Kopf. „Einen Moment war ich starr vor Schreck, dann bin ich zu der Stelle gerannt, an der er ans Ufer kommen musste. ‚Was zum Teufel machst du denn da?‘, frage ich ihn, als er splitterfasernackt und grinsend wie ein Honigkuchenpferd aus dem Wasser steigt. ‚Schwimmen‘, sagt er, und ich darauf: ‚Wo hast du das gelernt? In der Schule?‘ Er zieht seelenruhig seine Hosen an und gibt mir zur Antwort: ‚Ich habe mir angeschaut, wie die Frösche es machen. Dann war es ganz einfach.‘ Ist er nicht erstaunlich?“, schloss Billings mit dem stolzen kleinen Lächeln, das oft über seine Züge glitt, wenn er von Lord Bromwell sprach.
„Der Earl und die Countess haben davon nie etwas erfahren, nehme ich an“, erwiderte Nell in fragendem Tonfall.
„Um Himmels willen, nein! Allerdings gestand er seiner Mutter, dass er schwimmen kann, ehe er lossegelte.“
„Seine Eltern dachten wahrscheinlich genau wie Sie, dass es ihm in der Schule beigebracht wurde.“
Billings machte ein schnaubendes Geräusch. „Da hat er nichts Brauchbares gelernt, wenn Sie mich fragen, außer Latein und Griechisch, und ob ihm das auf seiner Expedition geholfen hat …?“
„In seinem Buch schreibt er, dass er viele der praktischen Fähigkeiten, die ihm und der Mannschaft nach dem Schiffbruch überleben halfen, Ihnen verdankt“, warf Nell ein. Bei dem Gedanken, was womöglich geschehen wäre, wenn Lord Bromwell den Wildhüter in seiner Jugend nicht zum Freund gehabt hätte, überlief sie ein Zittern.
„Das schreibt er?“ Billings errötete wie ein scheues junges Mädchen auf seinem ersten Ball. „Aber er wäre auch ohne mich klargekommen. Viscount oder nicht, ich kenne keinen anderen Jungen, der so klug war und so in der Natur zu Hause wie er.“
Sie kamen an die Weggabelung, von der aus der eine Pfad zu Lord Bromwells Labor führte und der andere in den schattigen Wald mit seinen Eschen, Buchen und Eichen. Billings strich sich das Haar aus der Stirn. „Ich mache dann jetzt meinen Kontrollgang. Einen schönen Tag noch, Mylady.“
„Für Sie auch, Billings“, erwiderte Nell, als der Wildhüter mit seinem Hund im Schlepptau von dannen ging.
Je mehr sie über den Viscount erfuhr, desto mehr bewunderte sie ihn. Sicher, er war nicht vollkommen – er konnte stur sein und beschäftigte sich zu sehr mit seinen Spinnen –, doch ansonsten war er der liebenswerteste Mann, den sie je kennengelernt hatte.
Sie kam bei der Hütte an, und als sie eintrat, fragte sie sich, ob es nicht besser wäre, die Tür mit einem richtigen Schloss zu versehen. Gerüchte um giftige Spinnen und die Angst vor ihrem Biss waren zweifellos gute Abschreckungsmittel, und es gab nichts in dem Labor, das für irgendjemanden außer einem Gelehrten oder Naturforscher von Wert gewesen wäre, dennoch würde sie sich schrecklich fühlen, wenn Lord Bromwells Sammlung zu Schaden käme, und er selbst sicher erst recht.
Sie schlenderte an den Regalen entlang und besah sich die Glasgefäße und ihren Inhalt. Keinem der konservierten Spinnentiere hätte sie nahe kommen wollen, solange es am Leben gewesen war, aber sie begannen ihr vertraut zu werden, und Nell verspürte keine Abscheu mehr bei ihrem Anblick. Im Gegenteil, sie hatte sogar angefangen, die Spinnen zu beobachten, die in der Hütte lebten. Es fiel ihr auf, wenn ein neues Netz entstanden war, genau wie Lord Bromwell es als Junge beobachtet hatte, und sie bewunderte die hauchzarte Konstruktion. Wie gelang es den Tieren, die Fäden so gleichmäßig anzuordnen, und wie war es möglich, dass sie sich nicht selbst darin verfingen?
Plötzlich stutzte sie und blieb stehen. Hinter zwei Glasgefäßen lag ein Gegenstand, der ihr bisher nicht aufgefallen war. Als sie eines der Gefäße zur Seite schob, entdeckte
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