Ein skandalöses Geheimnis: Roman (German Edition)
schicksalhaften Wanderung die Richtung bestimmt und nicht auf Mr Boorde gehört, der ihn immer wieder mahnte, nicht so weit vorauszulaufen.
Leo trug zwar keine Schuld am Tod des Mannes, und dennoch waren es letztlich sein Leichtsinn und sein Ungehorsam, die zu dem schrecklichen Unglück führten. Um sich vor dieser Erkenntnis zu schützen, verdrängte er wohl jede Erinnerung an diesen Tag und an Mr Boorde. Sogar seine Wissbegierde und sein unbändiges Interesse an allen möglichen Dingen schob er in die hinterste Schublade seines Bewusstseins, weil all das irgendwie mit seinem Lehrer zusammenhing. Hatte er sich damit selbst strafen wollen? Er wusste es nicht.
Er begann das Buch über altrömische Kunst durchzublättern und suchte nach Ähnlichkeiten mit den Altertümern, die er auf seinem Land entdeckt hatte. Ohne es wirklich zu realisieren, griff er nach einem Notizbuch und begann zu schreiben.
Als ihm mitgeteilt wurde, dass sein Bruder samt Frau am nächsten Tag eintreffen werde, legte er die Arbeit beiseite. Sehr gut! Der Besuch würde Susanna davon abhalten, ihn die ganze Zeit mit besorgten Blicken zu verfolgen. Sie schien zu befürchten, die neuen Erkenntnisse könnten ihn trotz gegenteiliger Bekundungen schwer belasten.
Nein, er würde nicht zerbrechen. Je länger er über die Enthüllungen nachdachte, desto mehr Erleichterung empfand er. Endlich Gewissheit zu haben tat gut. Seit jeher hatte er das Gefühl gehabt, anders als sein Bruder und seine Schwester zu sein – jetzt wusste er, warum. Und was die Ehe seiner Eltern betraf – da kannte er nun ebenfalls die Wahrheit. Er fragte sich bloß, ob er es je besser machen könnte. Dunkel spürte er, dass es nicht ausreichte, sich nur sexuell zu verstehen und große Leidenschaft füreinander zu empfinden. Zu einer dauerhaft guten Ehe gehörte zweifellos mehr. Unter anderem Vertrauen, und auch das war bei ihnen bislang nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Susanna versteckte vielleicht ebenfalls etwas vor ihm.
Als am folgenden Nachmittag die Kutsche mit dem Familienwappen der Wades vor dem Haupteingang zum Stehen kam, trat Susanna neben ihren Ehemann und mahnte sich, nicht so nervös zu sein. Seine Familie konnte ja wohl schwerlich enttäuscht darüber sein, dass er sich eine Frau genommen hatte, die ihm Ruhe und Kinder schenken würde.
Nachdem der Lakai den Kutschschlag geöffnet hatte, stieg Viscount Wade als Erster aus. Er tastete mit den Füßen nach dem Tritt, ehe er ihn mit seinem ganzen Gewicht belastete und schließlich hinunterstieg. Dann drehte er sich um und streckte die Hand aus, um seiner Frau beim Aussteigen zu helfen. Louisa lächelte ihn dabei so strahlend an, als könne er sie sehen. Ein kecker Hut saß auf einem Schopf dermaßen leuchtend roter Haare, wie Susanna es noch nie gesehen hatte. Und, das ließ sich nicht übersehen, die junge Viscountess war schwanger.
»Du und dein Bruder habt ja beide Rotschöpfe geheiratet«, flüsterte sie ihm zu. »Allerdings ist mein Rot nichts gegen ihres.«
Er lachte, und bei dem fröhlichen Klang wurde ihr ganz warm ums Herz vor Glück.
In diesem Moment wandte Louisa sich ihnen zu und bekam ganz große Augen, als sie die unbekannte Frau entdeckte. Sie beugte sich vor, um ihrem Mann etwas zu sagen, doch der reagierte nur mit einem Kopfschütteln.
»Sie ist völlig irritiert«, flüsterte Susanna. »Wir sollten hingehen und es hinter uns bringen.«
»Lass sie erst einmal ins Haus kommen«, erwiderte Leo. »Du hast es viel zu eilig.«
»Ich bin ziemlich nervös.«
»Nervöser als bei deinen Eltern?«
»Natürlich! Ich kenne meine Eltern gut genug und wusste, dass ich sie am Ende von meiner Entscheidung würde überzeugen können. Aber deine Familie …« Sie führte den Satz nicht zu Ende und begann an ihrer Unterlippe zu kauen.
Er bedeckte ihre Finger, die auf seinem Arm lagen, mit seiner Hand. »Ich mache mir überhaupt keine Sorgen. Sie werden dich lieben.«
Sie sahen einander tief in die Augen, und Susanna stockte der Atem ob der Zärtlichkeit, die in seinem Blick lag. Mit einem Schlag wurde ihr klar, dass sie in einem neuen Leben angekommen war, in einer Partnerschaft, die sie gesucht hatte, in einer Familie. Und sie konnte nur hoffen und beten, dass Leo ihr immer so nahe bleiben würde.
»Wer ist das?«, ertönte plötzlich eine energische und ein wenig ungehaltene Frauenstimme.
Susanna zuckte zusammen. Über ihren Gedanken hatte sie glatt ihre Gäste vergessen. Sie sah, wie Leo beim Klang
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