Ein skandalöses Geheimnis: Roman (German Edition)
und nahm ihre Hand.
Mit deutlich erkennbarer Freude lächelte sie zu ihm auf. »Sagte das Mädchen eben Mr Wade? Mr Leo Wade?«
Leo verbeugte sich, während Susanna an seine Seite trat. »Das bin ich, Miss Deering. Erinnern Sie sich an mich?«
»Natürlich! Sie kamen häufig mit Ihrem älteren Bruder und Ihrer jüngeren Schwester nach Woodhill Manor.«
»Und das ist meine Frau, Mrs Susanna Wade.«
Miss Deering warf Susanna einen strahlenden Blick zu. »Wie reizend, Sie kennenzulernen, meine Liebe! Ich habe immer gewusst, dass Leo – ich sollte wohl lieber Mr Wade sagen – eines Tages die perfekte Frau finden wird. Setzen Sie sich doch bitte.«
Nachdem beide nebeneinander auf einem zierlichen Sofa Platz genommen hatten, gegenüber dem Sessel der alten Dame, sah Miss Deering Leo liebevoll an.
»Was für ein Schlingel Sie waren, Mr Wade. Während Ihrer Besuche stand der ganze Haushalt regelmäßig kopf.«
»Ja, seine Streiche sind berüchtigt«, meinte Susanna trocken.
»Jeder kleine Junge ist so«, bestätigte Miss Deering nickend. »Aber Mr Wade … O ja, der war wirklich ein Energiebündel. Er wollte alles wissen, alles machen. Selbst die Bibliothek war nicht vor ihm sicher.«
Leo runzelte die Stirn.
»Ich kann mir vorstellen, dass Sie mittlerweile alle Bücher dort gelesen haben. Er legte einen unersättlichen Wissensdurst an den Tag, Mrs Wade, doch das wissen Sie natürlich besser.«
»Ja, das stimmt«, erwiderte Susanna ruhig und warf Leo einen amüsierten Blick zu.
»Er wollte unbedingt, dass man ihm früh das Lesen beibrachte, hat mir seine Mutter damals erzählt. Gerade mal mit zwei Jahren hat er ein Buch hochgehalten und gesagt, er will wie sein Bruder sein.« Sie klatschte in die zittrigen Hände. »Was für ein intelligentes Kind! Und so begabt in Sprachen. Ich war zwar nicht seine Lehrerin, aber es war eine Freude zu sehen, wie gut er lernte. Mit kaum fünf Jahren kannte er schon ein paar Brocken in drei unterschiedlichen Sprachen.«
Leo verzog das Gesicht. »Das glaube ich kaum, Miss Deering.«
»Wie viele Sprachen beherrschst du denn jetzt?«
Er sah Susanna an und zuckte vage mit den Schultern. »Fünf.«
Sie starrte ihn mit offenem Mund an.
»Tja, das habe ich vorausgesehen«, erklärte Miss Deering voller Befriedigung. »Wenn andere mir erzählen wollen, wie Sie sich jetzt in der Stadt aufführen, sage ich denen immer, dass sie ja keine Ahnung hätten.«
»Es gibt Dinge, auf die ich nicht sonderlich stolz bin.«
»Das geht uns allen so, mein Junge, das geht uns allen so.« Sie schwieg, während der Tee gebracht wurde, und bestand darauf, ihn selbst einzuschenken, obwohl ihre Hand leicht zitterte. »Ich werde die ganze Zeit weiter über Ihre Kindheit schwärmen, wenn Sie mich nicht unterbrechen und mir den Grund Ihres Besuchs verraten.«
Leo nahm seine Tasse mit schwarzem Tee entgegen, trank einen Schluck und stellte sie dann ab. »Miss Deering, wissen Sie von einem Unfall, den ich als Kind hatte? Anscheinend bin ich in eine Höhle gestürzt, kann mich allerdings nicht richtig erinnern.«
Der fröhliche Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht. »Ja, das weiß ich nur allzu gut, und es überrascht mich nicht, dass Sie es vergessen haben. So eine schlimme Geschichte. Sie und Ihr Lehrer, Mr Boorde, machten einen Spaziergang und stürzten beide in das Loch.«
»Mr Boorde?«, fragte er verblüfft. Der Name rief keinerlei Erinnerungen bei ihm wach.
»Ja, Sie waren beide unzertrennlich, mein Junge. Er genoss es, wie wissbegierig Sie waren, und freute sich daran, Ihnen die Welt zu erklären.«
Susanna beobachtete ihn aufmerksam, wie er jetzt wohl reagierte. Eigentlich gar nicht, denn wieder schüttelte er den Kopf. »Ich habe nicht einmal die geringste Vorstellung, wie er ausgesehen hat«, sagte er deprimiert.
Miss Deering beugte sich über den kleinen Tisch zu ihm hinüber und tätschelte seine Hand. »Sie haben sich Vorwürfe gemacht, obwohl alle Sie trösteten, und weigerten sich rundheraus, darüber zu sprechen. Schließlich verboten Ihre Eltern es allen, das Thema überhaupt zur Sprache zu bringen, denn jedes Mal gerieten Sie ganz außer sich. Es muss ja auch schrecklich gewesen sein. Während der vierundzwanzig Stunden, die Sie da unten gefangen waren, haben Sie versucht, die Ratten von Mr Boorde fernzuhalten.«
»Vierundzwanzig Stunden«, hauchte Susanna, und ihre Augen brannten vor Mitgefühl. »Kein Wunder, dass du dich nicht daran erinnern kannst. Es muss ganz entsetzlich
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