Ein skandalöses Geheimnis: Roman (German Edition)
geflohen«, korrigierte ihn Susanna ganz entspannt. »Wir üben uns im Malen einer nächtlichen Szene.«
Er trat näher, bis er sich auf gleicher Höhe mit der Statue befand. Er war einen halben Kopf größer, doch das gewellte Haar sah ähnlich aus wie das des marmornen Römers.
»Dann zeichnen Sie also den hier?«, fragte er und schaute von den Frauen zu der Skulptur und wieder zurück.
Alle pressten verlegen ihre Skizzenbücher an die Brust, als seien sie bei etwas Unanständigem ertappt worden.
Nur Mary gab ein angeheitertes Kichern von sich. »Wir zeichnen ewig Statuen. Ich glaube, wir sollten uns einmal an einem lebenden Modell versuchen.«
Alle rissen die Augen auf. Susanna blickte sich verstohlen um, war unsicher, ob jemand die Worte als Affront auffassen würde. Doch reihum sah sie fasziniert funkelnde Augen. »Mädchen, alles zu seiner Zeit.«
»Aber wann bekommen wir wieder so eine Gelegenheit?« Mary ließ nicht locker. »Jetzt wo Mr Wade schon mal da ist.«
Susanna öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Leo Wade kam ihr zuvor.
»Falls Sie der Meinung sind, dass Sie durch mich etwas lernen können, stelle ich mich selbstverständlich zur Verfügung«, erklärte er.
Carolines und Susannas Blicke trafen sich kurz, denn sie hatten die Doppeldeutigkeit aus seinen Worten herausgehört.
Jetzt stützte er sich auf der Schulter der Statue ab. »Ich werde auch ganz stillhalten. Das wird ein Spaß sein, nicht wahr?«
Mary kicherte erneut. »Bitte, wir wollen ihn zeichnen, Susanna. Das ist doch nichts Schlimmes.«
Sie hätte ihnen natürlich in Erinnerung rufen können, was ihre Eltern vermutlich davon hielten. Nämlich nichts, von der ganzen Nachtpartie nicht. Aber neuerdings wollte sie gar nicht mehr bei jeder Gelegenheit die Vernünftige spielen. Und wirklich: Was war schon dabei? »Na gut«, sagte sie.
Prompt bedachte Wade sie mit diesem für ihn typischen anzüglichen Grinsen. Dachte er wieder an die Wette? Als Antwort auf seinen Blick hob sie herausfordernd das Kinn. Bei ihr würde er auf Granit beißen, auch wenn sie sich nicht mehr wie eine eiserne Jungfer benahm.
Leo Wade rieb sich die Hände. »Was soll ich machen?«
Alle vier Damen richteten ihre Augen fragend auf Susanna.
»Da wir bereits mit einer stehenden Statue angefangen haben«, erklärte sie, »lassen wir es dabei. Stellen Sie sich einfach so neben das Fenster, dass Sie teilweise im Licht und teilweise im Schatten stehen.«
»Soll ich einfach nur dastehen?«
»Schade, dass wir kein Buch zur Verfügung haben, das wir Ihnen in die Hand drücken könnten.«
»Im Regal neben dem Kamin stehen ein paar Bücher. Wegen der antiken Buchstützen«, sagte Caroline. »Soll ich eines holen?«
Kurz darauf stand ihr Lebendmodell mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand neben dem Fenster. »Ich lese bei Mondlicht?«, fragte er mit sarkastischem Unterton.
Sie bedachte ihn mit einem zufriedenen Lächeln. »Dadurch haben die Damen mehr zu malen; vor allem was Ihre Hände und Arme betrifft. Können wir anfangen? Bitte denkt alle daran, dass wir keine Zeit für ausgefeilte Skizzen haben. Zumindest nicht, wenn wir auch noch eine Runde schlafen wollen.«
Victoria Randolph stieß ein wenig damenhaftes Schnauben aus, bedeckte aber schnell den Mund.
»Bei dieser Übung geht es mehr um die Gestalt in der Dunkelheit, die Andersartigkeit der Schatten bei Nacht. Es soll nicht zu viel Zeit auf die Ausarbeitung von Gesicht und Händen verwandt werden. Ihr sollt nur einen ungefähren Eindruck von seinen Körperformen geben.«
Mary flüsterte Aurelia etwas ins Ohr, und beide fingen an zu kichern.
Susanna setzte sich auf das große Sofa neben Caroline. »Mädchen, wir fangen jetzt an. Und es werden keine Gespräche geführt, Mr Wade. Ich weiß, dass Ihnen das schwerfällt, aber wir müssen uns konzentrieren.«
Wieder war unterdrücktes Gelächter zu hören, doch Leo Wade zuckte nur amüsiert mit den Schultern und richtete den Blick auf das Buch in seiner Hand. Susanna vermutete, dass er kaum lange durchhalten würde. Sie täuschte sich, denn als sie das nächste Mal auf die Uhr auf dem Kaminsims schaute, war bereits eine Dreiviertelstunde vergangen, und er stand noch immer völlig entspannt da, ohne sich zu rühren.
»Mr Wade, ich bin beeindruckt«, erklärte sie. »Bedauern Sie nicht mittlerweile, sich so großzügig angeboten zu haben?«
»Überhaupt nicht.«
»Wir könnten dem armen Mann doch erlauben, sich ein paar Minuten auszuruhen«,
Weitere Kostenlose Bücher