Ein skandalöses Geheimnis: Roman (German Edition)
anderen Hand schlich Susanna schließlich durchs Haus. Sie befand sich direkt vor Carolines Tür, als diese aufging und beide erschreckt zurückfuhren. Die Kerzen flackerten wild, während die jungen Damen ein Kichern unterdrückten und mit leuchtenden Augen zur Vorderseite des Hauses eilten.
Die Galerie lag im ersten Stock und zog sich über die ganze Breite des Hauses. Am Tag hatte man hier einen atemberaubenden Ausblick auf die Landschaft. Nachts strömte Mondlicht durch die hohen Fenster und erzeugte seltsame Schatten zwischen den Skulpturen und Vasen, die hier standen. Die Wände waren über und über mit riesigen Gemälden bedeckt, doch was sie darstellten, war in der Dunkelheit nur vage zu erkennen.
Susanna zuckte zusammen, als Aurelia plötzlich vom Sofa aufsprang, auf dem sie im Dunkeln gehockt hatte, und unterdrückte gerade noch rechtzeitig einen Schreckenslaut. »Mein Gott, du darfst nicht so plötzlich vor uns auftauchen«, mahnte Caroline sie.
»Ihr habt mich erschreckt«, verteidigte sich ihre Cousine und warf einen verstohlenen Blick über die Schulter. »Es war schon schwer genug für mich, überhaupt herzukommen. Mamas Zimmer und meines haben schließlich eine Verbindungstür.«
»Jetzt bist du ja hier«, beruhigte Susanna sie. »Lasst uns eine geeignete Stelle zum Arbeiten finden, während wir auf die anderen warten.«
Als Victoria und Mary zu ihnen stießen, hatten sie es sich bereits auf einem Sofa bequem gemacht und betrachteten eine der im Mondlicht schimmernden Statuen.
»Wir tun so, als ob es ein richtiger Mensch wäre«, sagte Susanna und trat zu der weißen Skulptur. Sie stellte einen jungen Römer in einer locker fallenden, ärmellosen Tunika dar. Die muskulösen Arme hingen herab, und der Kopf sah aus, als sei der Blick weit in die Ferne gerichtet.
Aurelia kicherte. »Ich habe mir immer vorgestellt, dass er echt ist, Caroline. Wusstest du das?«
»Du warst immer sehr fantasievoll«, erklärte diese liebevoll. Mary, die statt ihres Abendkleids jetzt ein sehr schlichtes Gewand trug, umrundete mit Susanna die Marmorfigur und ließ ihre Finger über einen der Arme gleiten. »Ach, wenn er doch echt wäre.«
Susanna hätte am liebsten gelacht. Sie hatte jahrelang echte Modelle skizziert, aber das war kein Thema, über das man mit behüteten jungen Mädchen sprechen konnte. Nicht einmal ihre eigene Familie sprach gerne darüber. Die Menschen, die sie gezeichnet hatte, waren nämlich nicht sehr lebendig gewesen.
»Also, nehmt eure Malblöcke zur Hand und versucht, das Weiß des Marmors vor dem dunklen Hintergrund zum Leuchten zu bringen, ohne dass die weiche Blässe ganz verloren geht. Das Ganze muss aussehen, als würde es in der Dunkelheit schweben.«
»Ach, wie poetisch«, seufzte Caroline.
Die anderen drei lachten leise, und in Susanna stieg ein für sie fremdes Gefühl auf: Sie gehörte dazu. Nicht einmal im vertrauten Familienkreis hatte sie das so stark gespürt. Wer weiß, vielleicht wäre sie besser früher schon auf andere junge Mädchen und Frauen zugegangen, statt sich immer zurückzuziehen.
Mehrere Minuten lang herrschte andächtiges Schweigen, das nur von gelegentlichen Fragen an Susanna unterbrochen wurde. Mehr und mehr schien die Dunkelheit zu weichen, der Mond heller zu strahlen, bis die Statue förmlich leuchtete.
»Meine Damen?«
Eine Männerstimme zerriss die Stille, und entsetzte kleine Schreie wurden laut. Victoria ließ sogar ihren Block zu Boden fallen. Nur Susanna blieb ruhig. Natürlich Leo Wade, wer sonst. Sie fragte sich bloß, wie lange er sie schon beobachtete. Allein der Gedanke löste ein Kribbeln bei ihr aus. Das konnte ja spannend werden.
»Mr Wade«, sagte Caroline und stand auf, als würde sie einen morgendlichen Besucher begrüßen. »Haben wir Sie gestört?«
Er trat aus dem Schatten, und das helle Mondlicht ließ seine Haare aufleuchten. Seine Krawatte hing lässig über einer Schulter, der Kragen stand offen, sodass man seinen Hals, den Adamsapfel und sogar die Vertiefung am Schlüsselbein sehen konnte. Das war mehr männliche Haut, als eine Dame sonst zu Gesicht bekam. Obwohl seine Augen schimmerten, meinte Susanna einen Anflug von Erschöpfung zu erkennen.
»Nein, ich hatte mich noch nicht auf mein Zimmer zurückgezogen«, erklärte er grinsend. »Wir Herren sitzen in einem anderen Flügel des Hauses und spielen Karten und Billard, konnten also nicht mitbekommen, dass Sie des Nachts aus Ihren Zimmern geflohen sind.«
»Wir sind nicht
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