Ein skandalöses Geheimnis: Roman (German Edition)
Abendkleid aus, mehrere Tageskleider und ein Reitkleid. Er verfügte über den sicheren Geschmack eines Londoner Dandys, wenngleich sie sich fragte, ob diese großen Ausschnitte wirklich nötig waren. So bombastisch fand sie ihre körperliche Ausstattung nun auch wieder nicht. Was Leo offensichtlich ganz anders sah.
Allerdings bewunderte sie an diesem Nachmittag wirklich eines: sein phänomenales Gedächtnis. Jedes Mal wenn er und die Schneiderin sich bei einer Sache nicht einigen konnten, zog er bereits erledigte Blätter hervor und demonstrierte ihr genau, was er meinte. Schlagartig durchschaute Susanna jetzt auch das Geheimnis seines Erfolgs beim Kartenspielen: Er konnte sich einfach alles merken, was er einmal gesehen hatte.
Im Übrigen verbrämte er seine Bevormundung bei der Kleiderwahl mit viel Geschick, indem er sie ausführlich über Vorzüge und Nachteile eines Modells, eines Stoffes, einer Farbe aufklärte, ohne je überheblich zu wirken. Er betrieb das Ganze wie ein Spiel, das ihm Freude bereitete und damit auch ihr. Susanna wunderte sich über sich selbst. Noch vor Kurzem hätte sie empört aufbegehrt.
Auch als Leo mit Madame Chambord Details über Anproben, Lieferungen und Preise verhandelte, hörte sie interessiert zu und erkannte, welch guter Geschäftsmann er war. Er wusste nämlich ganz genau, ob ein Modell seinen Preis wert war. Trotzdem kam am Ende eine beachtliche Summe zusammen, die er, ohne mit der Wimper zu zucken, akzeptierte. Und Madame Chambord schien keinerlei Zweifel zu hegen, dass sie ihr Geld bekommen würde. Susanna schämte sich plötzlich über ihr törichtes Gerede bezüglich ihrer Mitgift.
Jeden Tag lernte sie neue Seiten seiner Persönlichkeit kennen, die ihr zeigten, dass hinter der oberflächlichen Maske weit mehr steckte, als sie angenommen hatte. Ihr dämmerte langsam, dass sie ihre Meinung über Leo Wade gründlich würde revidieren müssen.
Kapitel 15
Die nächsten beiden Tage in York absolvierten Leo und Susanna ein volles Programm, mal gemeinsam, mal jeder für sich. Sie begleitete ihn, wenn er Freunde besuchte, reklamierte aber zugleich Zeit für Dinge, die ihn weniger interessierten. Er nutzte dann die Gelegenheit, seinen eigenen Vergnügungen nachzugehen, schaute sich zum Beispiel einen dieser Boxkämpfe an, die Susanna so schrecklich fand, oder besuchte einen Club.
Während er morgens ausschlief, ging sie früh auf Entdeckungsreise, erkundete die Gegend und hielt Ausschau nach lohnenden Motiven. Für eigene Skizzen und für Tyler. Leo fand das inzwischen etwas albern – welcher Mann interessierte sich schon so für Blumen –, und zudem störte es ihn, dass Susanna so viel Zeit dafür aufwandte.
Allerdings konnte er sich seit dem Besuch bei der Schneiderin eigentlich nicht mehr beschweren, denn seitdem schenkte ihm seine Frau erheblich mehr Aufmerksamkeit als zuvor. Irgendeine Veränderung war in ihr vorgegangen, deren Grund er bislang nicht kannte. Was hatte er schon groß getan, außer mit Geschmack und Sachverstand für sie eine Garderobe zusammenzustellen? Trotzdem stimmte ihn die Wandlung hoffnungsvoll und bestätigte ihn darin, dass er ihr nur Zeit geben musste. Irgendwann würde er sicherlich ihr Vertrauen erringen.
Er beharrte darauf, sie ins Atelier des Malers Cobbett zu begleiten, das seit dem Tod des Künstlers öffentlich zugänglich war. Zu seinem Erstaunen erhob sie keinerlei Einwände, obwohl sie anfangs erklärt hatte, lieber ohne ihn dorthin zu gehen. Ein anderes Mal trug er für sie Pakete mit Büchern, die sie in irgendeinem Laden aufstöberte. Der Kutscher lachte schon darüber, was Susanna so alles anschleppte, und Leo war sicher, dass Bradley ihn für den typischen jungen Ehemann hielt, der seiner Liebsten keinen Wunsch ausschlagen konnte. Und irgendwie stimmte das ja sogar.
Wenn sie sich doch auch im Bett näherkämen. Aber hier waren keinerlei Fortschritte zu verzeichnen. Dazu war sie ganz offensichtlich nach wie vor nicht bereit. Und so beobachtete er hilflos, wie sie sich anmutig in der kleinen Hotelsuite bewegte, während er Höllenqualen litt und seine Sinne in einen Ausnahmezustand gerieten. Sogar ihre Brille erregte ihn inzwischen, zumal wenn die Gläser im Kerzenschein aufblitzten und ihre Augen noch goldfarbener wirken ließen als sonst. Er ertappte sich dabei, dass er ruhelos im Zimmer herumlief und mehr als sonst trank, um seine innere Unruhe zu kaschieren.
Inzwischen war der Vorrat an Kleidern mit Vorderverschluss
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