Ein skandalöses Geheimnis: Roman (German Edition)
faszinierte ihn, wie sie winzige Details erkannte und mit schnellen, wohlgesetzten Strichen wiedergab. Ein weiterer Beweis für ihre beeindruckende Wahrnehmungsfähigkeit, die sie leider Gottes jedoch auch auf ihn anwandte.
Er hatte manchmal das Gefühl, von ihr bis in den tiefsten Winkel seiner Seele durchschaut zu werden. Natürlich war es in einer Ehe wichtig, dass man sich dem anderen öffnete, aber manchmal ging es ihm zu weit. Damit störte sie nämlich das fragile Gleichgewicht in seinem Innern, das er sich mühsam aufgebaut hatte.
Nach dem Museum stand bei ihr der baufällige Clifford Tower auf dem Plan, auf den sie unbedingt hochklettern musste. Als sie anschließend auch noch nach unten in die Verliese steigen wollte, streikte er. »Nach all den beängstigenden Träumen ist mir kaum danach, mir Kerker und Verliese und vielleicht Folterwerkzeuge anzusehen. Setz du nur deinen Bummel durch die Schreckenskammern fort und genieße den Grusel – ich für mein Teil ziehe einen kleinen Waffengang vor. Ich habe in der Stadt eine Fechtschule entdeckt«, fügte er erklärend hinzu.
Er drehte sich um und ging davon, während sie einmal mehr über seine seltsamen Träume nachdachte.
Als sie York am nächsten Tag mit Truhen voller neuer Kleider verließen, vertrieb Susanna sich die Zeit damit, Leo zu zeichnen, der auf der Bank gegenüber schlief. Wie immer sparte sie sein Gesicht aus. Warum, das wusste sie selbst nicht. Es kam ihr irgendwie zu intim vor. Sie schlug ihr Skizzenbuch zu und schaute aus dem Fenster.
Am Abend hielten sie auf einem Gut in Nottinghamshire an, dessen Besitzer, Mr und Mrs Wyndham, alte Freunde von Leo waren. Alle kannten sich offenbar seit Kindertagen, doch die Liebe zwischen dem Ehepaar schien verflogen, und sogar Leo fiel das eisige Klima auf, das im Haus herrschte. Susanna sah, wie sein besorgter Blick mehr als einmal zwischen den beiden hin und her ging. Trotzdem fand sie den Aufenthalt interessant, weil sie so einiges über Leo erfuhr.
Nachdem sie sich auf ihr Zimmer zurückzogen hatten, fragte sie ihn danach. »Mrs Wyndham hat schöne Erinnerungen an eure gemeinsame Kinderzeit«, meinte Susanna und setzte sich auf die gepolsterte Bank am Fußende des Bettes.
Leo wusch sich gerade das Gesicht über einer Schüssel und gab nur ein Grunzen von sich.
»Sie erzählte, du hättest jede Uhr im Haus kaputt gemacht, weil du alle auseinandernehmen wolltest.«
»Damit waren sie nicht kaputt«, sagte er über die Schulter.
»Stimmt – schließlich hast du sie ja wieder zusammengesetzt.« Als Charlotte Wyndham ihr davon berichtete, musste sie unwillkürlich denken, dass die Liste von Leos verborgenen Talenten um eines länger geworden war. »Wie alt warst du damals?«
»Ich erinnere mich nicht.«
Sie glaubte ihm keine Sekunde und verstand gleichzeitig nicht, was er damit bezweckte. Irgendetwas verdrängte er – irgendeine Sache, die sein merkwürdiges Leugnen zur Folge hatte und am Ende dazu führte, dass er sich hinter einer Maske völliger Interessenlosigkeit verbarg und sich nur noch oberflächlichen Vergnügungen widmete. Was war es, das er hinter seiner ständigen Heiterkeit, seinem ewigen Lachen zu verbergen suchte? Vor was musste er sich schützen?
Bei ihr war es die Angst gewesen, verletzt zu werden. Deshalb hatte sie für sich die Rolle der unberührbaren Jungfer gewählt, die niemand beachtete – wenn man stets am Rande blieb, tat einem auch niemand weh. Aber bei Leo musste es ganz andere Gründe geben, da war sie sich sicher.
Er drehte sich zu ihr um, während er sein Hemd auszog. »Mir hat das Gespräch heute Abend gefallen, bei dem du wieder deine beachtliche Bildung hervorgekehrt hast.«
Sie sah ihn mit großen, unschuldigen Augen an. »Ich war so aufgeregt, als ich das Buch über Schmetterlinge entdeckte, weil ich mich schon immer intensiver damit beschäftigen wollte. Man könnte wunderschöne Bilder von ihnen anfertigen, obwohl ich sie dafür mit einer Nadel an die Wand heften müsste, damit sie stillhalten.«
»Und Falter«, ergänzte er grinsend. »Vergiss die Falter nicht. Ich dachte, Wyndham würde vor lauter Langeweile anfangen zu schielen.«
»Du etwa nicht?«, provozierte sie ihn. Er schien vergessen zu haben, dass er erst vor ganz kurzer Zeit genauso reagiert hatte und belesene Frauen ihm ein Gräuel waren.
»Du könntest mich nie langweilen, Susanna.«
Schön wär’s, dachte sie. Und selbst wenn es für den Moment wahrscheinlich sogar stimmte, fragte sie
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