Ein Sommer unwahrscheinlichen Gluecks
bin ich nicht mehr der coole Kumpel.
Er sagt: »Stimmt schon, aber Scheidungen passieren nun mal. Und Kinder müssen damit zurechtkommen. Man muss nicht nur mit dem Tod und Steuerprüfungen rechnen. Sondern mit Tod, Steuerprüfungen und – Scheidung.« Habe ich nicht gerade ganz ähnlich argumentiert? Offenbar nicht so, dass es angekommen wäre.
Danach bin ich wirklich still. Er angelt, und ich staple Flusskiesel, wobei ich den herzförmigen Stein fest in eine Hand gepresst halte. In meinem Garten habe ich schon einen ganzen Weg aus denen, die wir über die Jahre gesammelt haben. Darunter auch die von unserer Verlobungszeremonie. Diesen hier nehme ich vielleicht sogar heute Abend mit in mein Bett. Und lege ihn dann wie einen Milchzahn unter mein Kopfkissen.
Auf einmal fällt mir ein, dass ich noch einen Anruf machen muss, und weil mein Akku leer ist, greife ich nach seinem Handy, das er auf sein Hemd gelegt hat.
Daraufhin echauffiert er sich und sagt: »Was machst du denn da?«
Ich gebe zu, dass ich durch sein Nummernverzeichnis blättere, weil ich eine bestimmte Nummer suche. Aber schließlich ist er mein Ehemann. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Oder doch? Immerhin ist es ja nicht so, dass ich hinter seinem Rücken herumschnüffle. Ich sitze vielmehr gut sichtbar neben ihm.
Er schnappt mir den Apparat weg, drückt ein paar Tasten und sagt: »Da findest du niemand, über den du dir Sorgen machen müsstest. Das ist nur privat. Das ist alles. Ich mag es einfach nicht, wenn jemand an mein Telefon geht.«
Erstaunlich, wie schnell eine Hoffnung entstehen und wieder in sich zusammenfallen kann.
Geheimnisse. Er hat Geheimnisse. Was für Geheimnisse? Wie verfänglich sind die wohl?
Warum möchte jemand seine Telefonkontakte für sich behalten? Die Möglichkeiten, die mir einfallen, sind niederschmetternd.
Ich gehe sie eine nach der anderen durch:
Eine Frau: Ich habe ihn jedoch genau beobachtet, als er mir sagte, es gäbe keine andere Frau. Und ich habe einen Blick dafür, wenn er lügt. Also bin ich entschlossen, ihm das zu glauben, selbst wenn ich dadurch einen Narren aus mir mache. Aber schließlich gibt es keinerlei schlagende Beweise.
Drogen: Wir sind ein Urlaubsort, das spräche dafür. Allerdings ist er noch nicht so auf den Hund gekommen, oder?
Geheimniskrämerei: Vielleicht plant er eine Riesenüberraschungsparty für meinen bevorstehenden Geburtstag. Vielleicht steht er in Kontakt mit meiner Agentin, und die beiden haben sich die Offenbarung der großen Neuigkeit in Gestalt einer leibhaftigen, bedeutenden Lektorin aus New York ausgedacht! Weil eines meiner Bücher endlich verkauft ist! Ja klar, bestimmt.
Ich halte keine der Möglichkeiten für wahrscheinlich. Also entscheide ich mich für Schweigen und Atmen.
Er geht ein Stück den Fluss hinunter, um an einer anderen Stelle zu fischen.
Da nehme ich den herzförmigen Stein und schleudere ihn ins Wasser. Mein Herz steckt darin. Soll der Fluss es doch für mich aufbewahren. Es enthält meine Hoffnung. Vielleicht trägt er sie eines Tages hinaus ins offene blaue Meer.
Entgleist
23. August 2008.
Heute ist mein 42. Geburtstag, und meine ganze Familie ist zu Besuch. Es ist unser jährliches, sommerliches Familientreffen, das dieses Jahr eben in Montana stattfindet. Viele Generationen sind erschienen. Man hat Holzhäuser in den Wäldern gemietet. Und es gibt Pläne für üppige Festessen und Ausflüge bei schönstem Wetter.
Ich habe mich darauf gefreut, meine Familie um mich zu haben. Die Herausforderungen dieses Sommers zu vergessen und mir vorzustellen, es könnte irgendein Sommer in einer langen Reihe von Sommern in meinem Leben sein.
Angesichts unserer Ehekrise frage ich mich trotzdem, warum ich mir das zumute. Es ist schließlich schwierig genug, eine gewisse mentale und spirituelle Ausgeglichenheit zu bewahren, wenn man angeschlagen ist. Doch das unter Zeugen, am helllichten Tage, und nicht in der Deckung von Kissen und Decken tief in der Nacht – das ist noch mal etwas ganz anderes.
Und offen gestanden, fallen mir solche Familienbesuche ohne meinen Vater immer noch schwer. Wenn ich alle in einem
Raum versammelt sehe, suche ich immer noch unwillkürlich nach ihm – und dann trifft es mich wie einen Schlag in die Magengrube, dass er nicht da ist. Ich kann ihn nicht zu einem Spaziergang mitnehmen und ihm von neuen Ideen berichten, über etwas lamentieren oder mit Sachen angeben, mit denen ich mich vor niemand sonst trauen würde
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